Hello All,
mein Ältester hat mir zum Geburtstag „Opa, erzähl‘ mal“ geschenkt; ein Erinnerungsalbum. Ein über 100 gebundene Buchseiten langer Fragebogen, um mir Biographisches aus der Feder zu locken. Ein Leichtes! Wirklich? Als Sozial- und Marktforscher hatte ich über vierzig Jahre mit Fragebogen zu tun. Aber nicht mit so langen – und so delikaten. Nichts mit dem gewohnten „anonym“ und „nur zu statistischen Zwecken“. Ross und Reiter entlang meines Weges der letzten sieben Jahrzehnte werden da abgefragt. Die inzwischen für immer Schweigsamen stellen da ein geringeres Problem dar. Doch wie gehe ich mit Erinnerungen an quicklebendige und widerspruchsbereite Augenzeugen meines Lebens um? Soll ich die Enkel beschönigend anschwindeln, und das auch noch handschriftlich attestieren? Oder soll ich so ehrlich wie möglich schreiben; auf die Gefahr hin, dass manche Freunde oder Verwandte in einem anderen Lichte aufscheinen, als es dem aktuellem Frieden guttut? Aus welcher Warte heraus soll ich über meinen Vater schreiben: Wie ich ihn heute als Ü-70iger rückblickend erinnere oder wie ich , z.B. als Fünfzehnjähriger, ihn empfunden hatte? Weiß ich das heute noch mit vertretbarer Gewissheit?
Mich verblüfft bei den professionellen Autobiographien der einst Relevanten und derer, die es noch werden wollen, wie trefflich sie sich an Daten, Orte, Inhalte und Gefühle erinnern können. – In eigener Sache wähne ich mich auf dünnem Eis, was zurückliegende Fakten und „Narrative“ angeht. Apropos Narrativ: An welche Enkel soll ich mich beim Verfassen sprachlich und gedanklich wenden? An die heutigen sechs Kinder unter zehn oder an die künftigen Teenager oder gar an die künftig jungen Erwachsenen mit eigenen Familien in spe? Die interessieren sich womöglich für ganz andere Aspekte meines Werdegangs – wenn überhaupt. Darf ich meine Biografie unterhaltsam bis ironisch einfärben oder haben die Jungen Leute ein Anrecht auf seriöse Erinnerung an den Groß- gar Urgroßvater? Liest das tatsächlich irgendeiner?
Mir drängt sich ein Verdacht auf: Der ellenlange Fragebogen ist in erster Linie dazu gedacht, mir, dem Ruheständler im Corona-Lockdown eine wochenverschlingende Beschäftigung zuzuweisen. Und mich zum Fotoalbensortieren zu animieren. Liebe Freunde, mein anfänglicher Elan schmilzt unter der Reibungswärme all dieser Fragen dahin. Abgesehen davon, dass für die mir wichtigen Fragen viel zu wenig Platz im Vordruck eingeräumt ist. Nachträglich korrigieren lassen sich die Einträge auch nicht mehr. Das Glanzpapier nimmt keine Bleistiftspur an und Tinte verharrt darauf fast unwiderrufbar. Nicht gut für spontane Antworten. Ich mach’s jetzt wie mit vielen meiner Corona-Zeit-Aktivitäten: Aufschieben, es drängt ja nichts und niemand im Lockdown und Warten auf die Impfung. Wenn ich da nicht die unsichtbare Sanduhr im Countdown der Realität rinnen hören würde. Also doch flugs weiterschreiben?
Ihr Global Oldie
Eine Antwort
Hallo Global Oldie,
ich hätte da eine Idee, um aus diesem Dilemma – schreib ich’s auf, schreib ich’s nicht auf und wenn ja, wíe – herauszukommen: Es jemand anderem erzählen. Der es dann wohlmöglich sogar aufschreibt.
Das mit dem Selbst Aufschreiben kann ich nachvollziehen. Manchmal ist ein Gespräch eine geringere Hürde. Manchmal regt es sogar an, die eigene Geschichte nochmals sehr lebendig vor dem geistigen Auge Revue passieren zu lassen und die vielen roten Fäden, die sich darin durchziehen, besser zu erkennen.
Grundsätzlich erzählt man sich ja die eigene Biografie in erster Linie selbst. Die Frage, ob diese Erzählung den tasächlichen Geschehnissen entspricht, ist dabei wohl gar nicht das Entscheidende. Der subjektive und individuelle Blick auf die Geschichte, sowohl im Persönlichen wie im Allgemeinen, ist das eigentlich Spannende an Biografien. Und schade ist es, wenn dieser individuelle Blick für die nachfolgenden Generationen verloren geht, weil man dieses Projekt zu lange auf später verschoben hat.
Nebenbei bemerkt: Ich biete genau das an – ich schreibe für andere deren Biografie. Ich finde es nämlich tatsächlich spannend, anderen Menschen zuzuhören wie sie ihren Teil der Geschichte erzählen :-).
Mit biografischem Gruß Thomas Peddinghaus