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Altersspezifische Ängste

Hello All,

über „Fomo“ hatte ich schon einmal an dieser Stelle gegrübelt. „Fear of missing out“, der grassierenden Angst, nicht dabei gewesen zu sein. Diese Not quält vorzugsweise Jugendliche und junge Erwachsene. Sie sehen in den Social Media, was andere angeblich erleben durften und digital in die Welt der Neider hinausposaunen. Egal ob das Gezeigte stimmt, geschönt oder geschummelt ist: Der Frust der Follower ist echt. Sie fühlen sich ausgeschlossen, abgehängt und erbärmlich: Der Zustand einer veritablen Fomo.

Ich will den Jugendforschern ihre griffige Formel „Fomo“ nicht streitig machen. Aber auch wir Alten haben Angstaggregate, die ähnlich eingängige Kürzel verdient hätten. Aus eigener Erfahrung, zuzüglich Beobachtung meiner Altersgenossen, schlage ich weitere „Fom-s“, exklusiv für Senioren, vor:

Fome, „fear of missing energy“; die schmerzliche Erfahrung, dass der Drive nachlässt. Schleichend oder in Stufen. Indizien sind u.a. die Unlust, alle zwanzig Minuten vom Sessel aufzustehen, um die Beine zu strecken. Die Versuchung, beim Radeln selbst kleinere Steigungen hochzuschieben. Anstatt Freunde daheim zu bekochen, sich lieber mit ihnen im Lokal zu treffen. Weniger Arbeit. Häusliche Projekte zum Aussortieren und Renovieren rutschen in der Prioritätenliste immer weiter nach hinten. Da mache sich jeder seine eigene, ehrliche Checkliste und gewichte die Fome-Anzeichen nach Schweregrad. Am schlimmsten empfinde ich den großen Trend im Rückblick: Was alles hatte ich vor zehn oder noch vor fünf Jahren geleistet – und jetzt? Geht es nur linear oder noch steiler bergab? Was klaut mir diese Tendenz in den kommenden Jahren?

Fomi, „fear of missing insight“, geht in ähnliche Richtung. Sie beschreibt meine Angst, intellektuell den Anschluss an Innovationen im Alltag zu verlieren. Sei es bei digitalen Formularen, Fummeln mit Kindersitzverankerungen der neuesten Generation, mit unbekannten Begriffen oder Designer-Duschen mit rätselhaften Armaturenfunktion: Wo drehen, drücken, wischen, schieben, berühren, um die Handbrause zu regulieren? Die verstohlene Sorge, doch noch einem der Enkeltricks oder Phishingattacken aufzusitzen. Im Kino und beim Fernsehen hechele ich den sekundenkurzen Bildschnittsequenzen hinterher. Selbst wenn ich mit Bild und Ton mithalten kann, stört mich Hintergrundmusik. Werde ich schwerhörig und/ oder begriffsstutzig? Wenn ich andere Senioren in deren Ratlosigkeit vor Fahrkartenautomaten der Bahn scheitern sehe, erfasst mich spontan Fomi. Aus solidarischer Empathie; aber im Untergrund als vorweg genommenes Selbstmitleid.

Fomu, „fear of missing understanding“. Versteht Ihr mich noch richtig? Ich meine akustisch, emotional, motivational und inhaltlich. Es muss mich nicht jeder verstehen. Solange es noch dutzende Andere gibt, die mir folgen können, ist etwas Unverständnis nicht tragisch. Doch der Trend birgt böses Potential. Wenn das soziale Umfeld brutto schwindet, und die Verbliebenen netto mehr ratlos oder gar desinteressiert auf mich reagieren. Liegt es dann an jenen, oder übler, an mir? Kann ich mich nicht mehr verständlich ausdrücken? Eine Schreckensvision, die ich Fomu taufe.

Foma bezeichnet die Angst vor dem Abgrund: „fear of missing age“. Die schwelende Sorge, gar nicht so alt zu werden, wie ich es mir vorgestellt habe. Bei mir schlägt Foma als Nachbeben ein, wenn ein Bekannter verstirbt.  Mich beunruhigt, dass es auch vermeintlich Unverwüstliche, top Fitte  ins Jenseits ziehen. Verstohlen überfliege ich Todesanzeigen, um das Geburtsjahr mit dem meinigen abzugleichen. Es wird eng. Schaffe ich es zumindest bis zur statistischen Durchschnittslebenserwartung meines Jahrgangs, 84,5 Jahren? Will ich mich mit Durchschnittlichkeit zufriedengeben – oder müssen? Früher war 84 eine abstrakte Zahl, so weit entfernt wie der Andromeda-Nebel; früher.

Das erweiterte Fomo- Narrativ: „Fear of irgendwas mit Vokal am Ende“. Wäre ich 50 Jahre jünger, würde ich darüber eine Diplomarbeit schreiben i.S.v. „Altersspezifische Formen der Fom-s im interkulturellen Vergleich“.  Wäre ich 40 Jahre jünger, hätte ich ein Buch darüber verfasst. Vor 30 Jahren hätte ich Fördermittel für ein wissenschaftliches Institut zur Problematik des Alterns eingeworben. Vor 20 Jahren böte sich das Thema für einen Vortrag vor einem Silver Ager Gremium an. Vor 10 Jahren hätte es mir als Wortspiel in einer launigen Geburtstagsrede für Dreissigjährige getaugt.

Heute reicht’s zum Lästern. Und zum erneutem Grübeln im Blog.

Euer Global Oldie

2 Antworten

  1. FOMA, FOME,FOMI,FOMU….
    Klasse. Super. Abundan trifft es diesbezüglich auch mich. Aber meistens lache ich über die Situationen und widme mich meinem Tagesmotto: Wie bin ich glücklich, dass ich mir mein jetziges Leben halbwegs so einrichten kann, wie ich es brauche. Und ich geniere mich nicht (mehr) dafür. Ich möchte mir nur zukünftig abgewöhnen am Ende mancher meiner Erzählungen innere Peinlichkeit zu empfinden… Vielmehr möchte ich das Gesagte mit stolzgeschwellter Brust Kindern und EnkelInnen beenden: WAS? IHR WISST NICHT WAS DAS IST? ICH SCHICK EUCH MAL DEN LINK!
    Schön wie Sie schreiben: Infornativ und heiter.
    Liebe Grüße
    Brita Erbes aus Roßtal

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