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Ethno-Autobiographie

Hello All,

überkommt Euch bisweilen das Verlangen, ungefragt aus verflossenen Jahrzehnten Eures Lebens zu erzählen? Dem nächtlichen Harndrang ähnlich, halte ich auch dieses Verlangen für eine untrügliche Alterserscheinung. Mit dem Unterschied, dass solche längeren Monologe Dritte treffen. Doch dank der Alphabetisierung lässt sich dieses Begehren, so es chronisch wird, sozialverträglich umleiten in eine schriftliche Autobiographie. Boshafte unken, dass die Tastatur der letzte Zuhörer des Autobiographen sei; das ist unfair.

Diese Form der Selbstdarstellung bietet Vorteile für beide Seiten: Die Angesprochenen dürfen nach eigenem Gusto entscheiden, ob überhaupt, wann und in welcher Dosis sie jene Erinnerungen interessieren. Der Erzähler wiederum kann frei von zeitlichen Einschränkungen mal ausführlicher, mal knapper relevante Stationen seines Lebens inszenieren. Zudem vergönnt die schriftliche Autobiographie dem Autor die Chance, seinem Gedächtnis mit Fotoalben, Adressbücher, Kalender und Tagebücher nachzuhelfen. Die ganz Mutigen trauen sich Auskunft von damaligen Wegbegleitern einzuholen. Doch, liebe Freunde, seid vor Befragungen zu alten Zeiten gewarnt: Selbst wohlwollende Augenzeugen neigen dazu, das über Jahre eingepflegte Bild der eigenen Vergangenheit schonungslos zu demontieren. Wenn es dumm läuft, hieven solche „erinnerst Du Dich“ – Gespräche verdrängte Peinlichkeiten aus den Tiefen des gnädigen Vergessens.

Wem all zu akkurate Nachforschungen in eigener Sache zu heikel sind, der halte sich an das Ur-Vorbild aller Autobiographien in der westlichen Kultur, den „Confessiones“ aus dem 4. Jahrhundert, des später geheiligten Augustinus, Bischof von Hippo Regius. In frommer Selbstreflexion beschrieb er seinen Weg vom sündigen Leben bis zu seiner Läuterung.  In Ich-Form enthüllt er sein Befindlichkeit, zumindest zum Zeitpunkt der Niederschrift.  Dass Augustinus die Autobiographie „Beichte“ titulierte, verweist auf sein Framing. Der Leser sollen ihn als reuigen Büser verstehen, der anderen Irrenden ein Beispiel zum Besseren weist.

Andere Autobiographen verfolgen andere Ziele. Humorvoll den Leser unterhalten, sich im Alter rechtfertigen, die Nachfahren an ihre Wurzeln erinnern oder sich an alten Rivalen rächen. Ein grundlegendes Leitmotiv unterstelle ich jedoch allen Autobiographen: sich selbst in ein vorteilhafteres Licht zu tauchen. Der Schriftsteller Maughan Summerset war überzeugt, dass „niemand die ganze Wahrheit über sich erzählen kann“.  Es vermengen sich Realismus,  Impressionismus und Absichten. Daher sehe ich in Autobiographien weniger genuine Wegbeschreibungen und mehr Einladungen zur Empathie. „Zieh‘ Dir meine heutige Brille an und schau durch sie auf Stationen meines Lebens zurück“.  Oder, mal wieder boshaft: Ein Exhibitionist schiebt für einen Voyeur den Vorhang etwas zur Seite; beide bekommen, was sie suchen. Bei professionell verlegten Autobiographien frage ich mich zudem, wie laut die Einflüsterer seitens Lektorats, Rechtsabteilung und Marketing zu Worte kommen.

Autobiographien sind kein Ersatz für gewissenhaft recherchierte, von unabhängigen Biographen verfasste Lebensdarstellungen.

Wenn Euch das zu defätistisch anmutet, so möchte ich euch die derzeitige Edelversion des Genres vorstellen, die Ethno- Autobiographie. Die Ethno-Autobiographie stammt meist aus der Feder von Migranten und thematisiert deren Kulturschocks. Der Erzähler behält die Ich-Form bei, doch schreibt er von einer „Wir“-Warte aus. „Meine Vorfahren, meine Familie, meine Meinesgleichen“. Sein Schicksal, seine Not und späteren Erfolg erklärt er mit seiner sozialen, nationalen, kulturellen und ethnischen Herkunft.

So berichten afroamerikanische Nachfahren ehemaliger Sklaven über Elend und Aufstieg ihrer Familien, Juden schreiben über Fluchtvorgeschichte und Neuanfang in der Fremde, japanische Fischerfamilien, die neue Existenzen an Westkanadas Küsten aufbauten oder vietnamesische Boat People, die in Europa neu Fuß gefasst haben. Lebensgeschichten von einst zu Unrecht Gestürzten, Unterprivilegierten, Ausgebeuteten und Flüchtlingen, die es trotz großer Widrigkeiten von ganz unten nach oben geschafft haben, zu Wohlstand und sozialer Anerkennung. Der Verdienst gebührt dem „Wir“-Umfeld und der besonderen Resilienz der jeweiligen Ethnie. Die Mission lautet, das Ansehen und Verständnis für andere Kulturen erhöhen.

Im Westen wirken solche Familien-Sagas wenig selbstgefällig. Solange man ausblendet, was in nicht individualistischen Kulturen das „Wir“ bedeutet: das Groß-Ich. Also doch nicht so ganz uneitel. Zumal es eher die Vertreter erfolgreicher Familien sind, die die Muse, Disziplin und später einen Verlag finden, solche Stories herauszugeben.

Ach, es ist ein Kreuz mit den Auto-Biographien. Inhaltlich und quantitativ. Stellt Euch vor: 50% aller US-Amerikaner* gaben in einer Umfrage ab, ihr Leben böte lohnenden Stoff für ein Buch oder Drehbuch. Da kommt was auf uns zu, wenn Millionen Baby Boomer am Tisch, am Tresen und letztendlich vor den Tastaturen ihr Leben Revue passieren lassen.  Ist es nicht vielleicht doch ein Glück, dass  der Widerstand, etwas Schriftlich fertig zu bringen größer ist als nachts aufzustehen und dem anderen Altersdrang Auslauf  zu gewähren?

Euer Global Oldie

*studyfinds.org/writing-books-life-worthy-of-deal; 11. November 2021

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