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So heiter, so einsam, so schrecklich

Die neusten sechs+sechzig-Lesetipps mit Fränkischem, Neuem und Wiederentdecktem finden Sie hier zusammengestellt. Viel Spaß bei der Lektüre!

Ach, die Ouernhällärä

Der Spatz, der auf Krumen hofft. Eichhörnchen, die vorm Fenster Fangen spielen. Eine Plastiktüte in den Ästen eines Baumes. Die Pandemie macht kurzsichtig. Plötzlich schaut man genauer hin, zum Beispiel »aff däi maserungä/ von dem holzfoußbuudn/ undä meim schreibdiisch«. Fitzgerald Kusz besingt sie in seinem neuen Gedichtband mit leiser Melancholie. Früher hätte er das Holz unter seinen Sohlen vermutlich glatt übersehen.

»Sunnablumma« – ein wunderbares Wort! – heißt der Band mit dem sommerlich-optimistischen Cover; er ist in der Corona-Krise entstanden und widmet ihr ein eigenes Kapitel namens »Lockdown«. Mit routiniert fränkischer Schicksalsergebenheit macht Fitzgerald Kusz, Jahrgang 44, aus Trostlosem schiere Poesie: »miä schdennä am fensdä/ wos bleibd uns anders ibri?/ miä schdennä am fensdä und schauä naus.« Hat man sich beim lauten Lesen nach anfänglichem Geholper an die exzessive Verwendung des Buchstabens ä wie in »ämäll« (einmal) oder in »ouernhällärä« (Ohrenhöhler) gewöhnt, verliebt man sich Hals über Kopf in die kurzen Gedichte. Ein alter Apfelbaum, die Liebe oder bloß ein Kinderfoto, Kusz macht was draus, und man lächelt.

Die Krise kann, so die virale Dialektik, kreativ machen, aber sie macht auch viel kaputt: »es deoodä is leer/ di bühne dunkl/ ä nachdfaldä zabbld/ innerm schbinnänedz/ kummd nimmä raus/ wou bleibdn dä hamlet?« 

»Sunnablumma, Fitzgerald Kusz, ars ­vivendi Verlag, Cadolzburg 2021, 128 Seiten, 15 Euro

Rettendes Stricken

Es scheint mindestens so ansteckend zu sein wie ein Virus, irgendwie pfui. Anders ist nicht zu erklären, dass alle es peinlichst vermeiden, über das Alleinsein und/oder die Einsamkeit zu sprechen. Dass Daniel Schreibers Buch »Allein« trotzdem im Nu die Spiegel-Bestsellerliste gestürmt hat, verrät viel über ein Tabu, das eigentlich ein Riesenthema ist. 

Der 1977 geborene Autor legt den Fokus auf die Zeit der Pandemie, die Singles einsamer durchwandern als Paare und Familien. Und er verflüssigt den mitunter zähen Stoff geschickt durch autobiografische Passagen, über sein Schwulsein, seine Einsamkeit, das Leben allein und die Sehnsucht nach einem Gegenüber. Er erzählt aber auch vom leidenschaftlichen Gärtnern, Stricken und von Yoga-Sessions auf Fuerteventura, bei denen er zu sich kommt. Wie auch immer Selbstfürsorge aussehe, ohne sie gehe es nicht, sagt Schreiber. Über Einsamkeit nachzudenken, darüber zu sprechen, sei überlebensnotwendig. 

Nebenbei: Auch rund 50 Prozent aller Nürnberger Haushalte werden von nur einem Menschen bewohnt. 40 Prozent der Deutschen leben allein, und es werden immer mehr. Doch, so Schreiber, die Figur des Paares, egal ob hetero oder schwul, bestimme unsere Vorstellungswelt. Sie sei der Normalfall, anders als etwa allein lebende Frauen, die »die vielschichtigen Ausgrenzungen einer auf der Institution der Ehe basierenden Gesellschaft« besonders hart treffen. 

Ein wenig nervig sind Kapitel, in denen der Autor eine ausufernde Text-Exegese philosophisch-soziologischer Literatur betreibt und von seiner eigenen Geschichte abkommt. Sie ist wieder da, wenn er feststellt, dass allabendliches Stricken »etwas zutiefst Meditatives« hat. Zitat: »Man nimmt seine Einsamkeit und macht etwas Schönes daraus.« 

»Allein«, Daniel Schreiber, Carl Hanser Verlag, München 2021, 160 Seiten, 20 Euro

Der Held strauchelt

Ein Buch über eine amerikanische Polio-Epidemie in den 1940er Jahren liest man heute mit anderen Augen. Denn es schildert, wie die Menschen damals mit dem zerstörerischen Virus umgegangen sind. Waren’s die Italiener? Ist die Milch kranker Kühe schuld? Oder sollte man die Kinder daheim einsperren, trotz der brütenden Hitze, die über der amerikanischen Industriestadt Newark liegt? Desinfektionsmittel floss in Strömen, doch eine wirksame Impfung gab es erst Jahre später. 

Holen wir also den schmalen Roman über den jungen Sportlehrer Bucky Cantor wieder vor, den Philip Roth (1933 – 2018) vor zehn Jahren veröffentlicht hat. Sein Held, der liebevolle Bucky, ist ein charismatischer Pädagoge, der versucht, die Kinder aus dem jüdischen Viertel beim Baseballspiel von der unsichtbaren Gefahr abzulenken. Doch er muss erleben, wie die ersten an Kinderlähmung sterben oder schwer krank werden.

Als ihn seine Verlobte Marcia bittet, zu ihr in ein poliofreies Ferienlager in den Bergen zu kommen, zögert er – und gibt nach. Er glaubt, dem Poliovirus endgültig zu entkommen und sehnt sich nach Marcia. Der Held wird schwach, er wählt, das sieht er später selbst so, den Verrat.

Es ist ein schicksalhafter Entschluss, aus dem der sprachmächtige Philip Roth meisterhaft eine bewegende Tragödie entwickelt. Sie spielt vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, in dem Bucky Cantor wegen seiner schlechten Augen nicht kämpfen darf. Pflichtgefühl, amerikanisch-jüdische Identität, die Frage nach Gott und Moral, in diesem fesselnden Rahmen vollendet sich das Schicksal der Hauptperson. Die Epidemie ist nur das Leuchtmittel, das die Szenerie erhellt. 

»Nemesis«, Philip Roth, Carl Hanser Verlag, München 2011, 222 Seiten, 21,90 Euro. Bei Rowohlt auch als Taschenbuch erhältlich.

Alle Buchkritiken: Claudine Stauber

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