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Literaturtipps für gemütliche Tage

Kulenkampff und Beinprothesen

»Abschied von den Boomern«? Moooment, möchte man angesichts dieses Buchtitels rufen, wir sind noch da, und wie! Aus dem Berufsleben, da hat Autor Heinz Bude freilich recht, steigen die Babyboomer nach und nach aus. Der Fokus des schreibbegabten Soziologen, der 1954 geboren und damit selbst Boomer ist, liegt auf den Jahrgängen 1954 bis 1970. Sie erklärt er zur gemeinschaftlich geprägten Generation der geburtenstarken Jahrgänge, was durchaus verwegen ist. Denn der Erlebnishorizont einer heute 70-Jährigen dürfte mit dem eines 54-Jährigen keine übermäßig große Schnittmenge haben.

Nichtsdestotrotz, stilistisch brillant macht sich Bude auf 134 Seiten auf einen lesenswerten Parforceritt durch die jüngere Geschichte, die jene, die »einfach immer zu viele« waren, geformt hat. Das reicht von den Kriegsversehrten, die mit ihren Glasaugen und Beinprothesen zum Alltag der frühen Boomer gehörten, über unverhohlenes Rest-Nazitum, das Aufwachsen mit Hans-Joachim Kulenkampff (»Einer wird gewinnen«), mit Willy Brandt, der RAF, bis hin zur Wiedervereinigung.

Als pragmatisch und skeptisch werden die Boomer beschrieben; als weder in das Kriegs- und Nachkriegselend ihrer Eltern und Großeltern verstrickt, noch anfällig für das utopische Denken der 68er. Dass sich Heinz Bude hier auf die Befindlichkeiten der eigenen akademischen Blase konzentriert, kann man kritisieren. Immerhin widmet er den im Osten sozialisierten Boomern einigen Raum (»Im Osten glaubten sie weder an den Sozialismus noch an seinen Untergang, im Westen weder an den Kaptalismus noch an seine Überwindung«). Zu kurz kommt die Lage der Frauen, die zwar von den größer gewordenen Bildungschancen profitierten, am Ende aber mit Care-Arbeit, Teilzeit-Jobs und Mini-Renten mehrheitlich ganz anders dastehen als ihre männlichen Zeitgenossen.

Fazit: Aus der boomenden Boomer-Literatur hebt sich Budes Analyse wohltuend heraus. Dass sich mit der Klimakatastrophe ganz neue Fragen an die abtretende Generation stellen, ist mal sicher. Bude: »Es steht der Vorwurf im Raum, dass die Boomer als Vorfahren ihren Nachfahren die Zukunft gestohlen haben.«

»Abschied von den Boomern«, Heinz Bude, Hanser Verlag München 2024, 22 Euro

Wenn Wale nicht mehr fressen

Ein Alptraum. »Darf ich hereinkommen? Es ist etwas Schlimmes passiert«, sagt der Polizist, der an Renatas Türe geklopft hat. Konrad, ihr Lebensgefährte seit einem Vierteljahrhundert, ist auf einem Parkplatz tot zusammengebrochen. Sabine Gruber, die 1963 geborene österreichische Autorin, hat Ähnliches erlebt, ihr Mann starb plötzlich bei einer Bergwanderung. Im Buch folgt sie wissend und akribisch den quälenden Versuchen der Protagonistin, dieses »Schlimme« zu verarbeiten, sich in ein Leben ohne Konrad zu retten und dabei diese große Lebensliebe noch nicht loslassen zu können. Das alles ist sehr gut geschrieben und nicht annähernd so düster, wie es klingt: »Renata weiß von Walen, die über ihren toten Gefährten wachen und nicht mehr fressen.«

»Selbst schuld, dass ihr nicht verheiratet wart«, sagt Konrads Bruder Marcel, der sich gemeinsam mit der Mutter schamlos an der Hinterlassenschaft des verstorbenen Architekten und Fotokünstlers bedient und verhökert, was nicht niet- und nagelfest ist. Das Testament auf einem Stück Papier ist wertlos, Renata verliert nicht nur den Partner von einem Tag auf den anderen, ihr wird auch alles genommen, was an ihn erinnert, von der Vase bis zur Kunst an der Wand. Sie wehrt sich nicht, kann nicht, will nicht kämpfen.

 Was sie rettet, ist ein Freundeskreis, der sie auch trägt, als sie zwei Schlüssel findet, die sie zuvor nie gesehen hat. Oder als sie ein verwaschenes Stück Papier aus einer Hose zieht mit der Notiz »Du fehlst mir so sehr. C.« Misstrauen und Eifersucht sickern ein. Sabine Gruber baut das Geheimnis und seine Aufklärung geschickt ein, bevor Renata endlich damit beginnt, worum sie Konrad zu Lebzeiten gebeten hat: Sollte er sterben, müsse sie sich wieder jemanden suchen. Sie schaut sich bei Tinder um, wo die idiotischen Selbstbeschreibungen der Herren (»Ich bin pflegeleicht und waschbar bis vierzig Grad«) allenfalls Unterhaltungswert haben.

Am Ende weiß man, lesend, ein wenig mehr über das Überleben.

»Die Dauer der ­Liebe«, Sabine Gruber, C.H. Beck Verlag München 2023, 24 Euro

Ungeschliffener Diamant

Unerschütterliche Selbstironie ist der Grundton dieser Autobiographie, weshalb nur ganz am Ende der 281 Seiten ein Hauch Bitterkeit durchschimmert. Schnell habe sich ihr der Ehealltag wie eine Garotte um den Hals gelegt, schreibt Gunda Krüdener-Ackermann hier und meint ein Würgeisen. »Nach fast 30 Jahren dann die Scheidung.« Wahrlich kein Einzelschicksal für Frauen Jahrgang 1954, doch in ihrem Fall hätte alles doch ganz anders ausgehen können, ausgehen müssen …

Immerhin war »des Friseurmeisters Töchterlein«, wie man sie im Gymnasium herablassend nannte, mutig mit 20 aus ihrem spießigen Elternhaus in Ingolstadt aufgebrochen, um sich im immer noch studentenbewegten Erlangen der Theologie zu widmen. Schnell wurde die aufgeweckte junge Frau dort von linken Schlaumeiern unter die Fittiche genommen. Man(n) wollte dem »ungeschliffenen Diamanten« aus der Provinz die Welt und das Kapital von Marx erklären und verordnete entsprechende Schulungen – die Gunda brav absolvierte, obwohl sie den Theoriekram dröge und langweilig fand.

Dieser Mix aus »Ein bisschen Marx und lieber Gott« gab dem Buch den Titel und ihren Studienjahren die Richtung vor. Doch wo sie aus Sicht einer heute 70-Jährigen endlich frei und kritisch denken und emanzipiert handeln hätte sollen, standen zählebige Rollenbilder im Weg. Erfrischend unzensiert zeigt die Autorin, wie Frauen damals (?) männliche Sichtweisen übernahmen und sich gegenseitig abwerteten. Biggi etwa aus der Nachbar-WG habe leider knappe Jeans getragen, »die ihre Fettröllchen in Kaskaden über den Hosenbund quellen ließen«. Heute wäre nach solchen Statements wohl ein Grundkurs in Body-Positivity fällig.

Krüdener-Ackermanns leichtfüßig-ironisch geschriebenes Buch transportiert viel Lokalkolorit – die WG der Autorin etwa residierte in einem hochherrschaftlichen Jugendstilbau am Prinzregentenufer, einschlägige Nürnberger und Erlanger Bars und Kneipen kommen vor. Zusammen mit zeittypischem Irren und Wirren ergibt das einen aufschlussreichen Trip in die späten 1970er Jahre und einen offenherzigen Blick auf das, was damals in den Köpfen junger Frauen steckte. Frau wollte am Ende doch begehrte Trophäe sein und die »Mausefalle« schnappte zu. Die Autorin dazu: »Heute ist mir mein Verhalten seltsam fremd.«

»Ein bisschen Marx und lieber Gott«, Gunda Krüdener-Ackermann, Books on Demand, ISBN-13: 9783758373121 , 19,95 Euro

Schreibblockade mit Papagei

Die Wohlhabenden haben sich längst in ihre Landhäuser verkrümelt, als die Pandemie im Frühjahr 2020 auch New York lahmlegt. Eine ältere Schriftstellerin, in der man schnell Züge der Autorin erkennt, bleibt und hütet in der Luxuswohnung einer Freundin deren Papagei. Schon in Sigrid Nunez2018 erschienenem, wunderbaren Buch »Der Freund« war die Beziehung zu einem Tier, einer 80-Kilogramm-Dogge, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Diesmal ist es der hochintelligente »Eureka«, der zum Vis-à-vis der Einsamen wird, der Ansprache braucht und mit ihr spielt. Er konnte, schreibt sie, »kaum dankbarer sein für meine Gesellschaft wie ich für seine«.

Die Beziehung zu dem kapriziösen Vogel ist zwar der emotionale Nukleus der Story. Doch Nunez reichert ihren Corona-Roman mit üppigen Literaturbetrachtungen (»In fast jedem langen Buch, das ich lese, sehe ich ein kurzes, das sich vor der Arbeit drückt«) und Zitaten, Kindheitserinnerungen und Gesprächen mit Freundinnen an.

Je mehr sich die unter einer massiven Schreibblockade leidende Papageien-Sitterin auf ihr Inneres konzentriert, desto spannender wird es. Man folgt ihr gerne, es passiert ja sonst nichts im stillen New York – bis Giersch einzieht, der Sohn von Freunden der Wohnungsbesitzerin. Auch er soll nach dem Papagei sehen, er hatte Streit mit den Eltern und sein Studium abgebrochen.

Seine zwangsläufige Mitbewohnerin ist alles andere als begeistert über den attraktiven Zuzug; die ganze Wohnung sei voller Testosteron, klagt sie. Wieder muss sie sich mit dem Älterwerden auseinandersetzen, denn Giersch ist »eine unübersehbare Erinnerung an das, was du nicht mehr haben kannst, was du verloren hast, dieser aufregende Teil des Lebens, der jetzt hinter dir liegt und nie wiederkommt«.

Mit feinem Humor lässt Sigrid Nunez ihr Alter Ego am Ende mit dem Jüngeren kiffen, Unmengen von Hafermilch-Karamell-Eis vertilgen und über das Leben reden und lachen. So lässt sichs alt werden.

»Die Verletzlichen«, Sigrid Nunez, Aufbau Verlage Berlin 2024, 22 Euro

Alle Buchempfehlungen: Claudine Stauber

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