Anzeige

Das Schlimmste am Altern

Hello All,

„Das Schlimmste am Altwerden ist die Erinnerung an die Jugend,“ antwortet der 73-jährige Alvin einer Gruppe Mitdreißiger auf deren Frage im Roadmovie „The Straight Story“.  Ich war perplex. Denn Alvin geht’s nicht gut: Ihn drangsalieren Arthrosen, Schmerzen, schlechtes Gewissen und Geldknappheit. Er quält sich schon wochenlang auf einem kleinen Traktor über Landstraßen und erlebt dabei weitere Demütigungen. Genug, um zu Klagen. Doch das empfindet er weniger schlimm als den Rückblick auf seine „besseren“ Jahre.

Will er der fröhlichen Radlergruppe am Lagerfeuer ihre Lebensfreude verderben? Alvin wirkt abgeklärt und gütig. Liegt es an seinen über fünfzig Jahre zurückliegenden Kriegserinnerungen als junger Soldat oder an schwierigen Zeiten mit der Familie? Haben wir Alten nicht alle einiges an ungemütlichem Gepäck eingesammelt und lassen uns dennoch nicht die ersten 30 – 40 Jahre so vermiesen?

Ich steige in den Film ein und setze mich mit ans Lagerfeuer in Iowa, Mitte der neunziger Jahre. Fragt mich doch mal dasselbe. Ich gehöre der Nachkriegsgeneration an und bin vergleichsweise zu Alvin mit meinen 74 besser dran.

Mein Schlimmstes am Altwerden? Bei allem Respekt, Alvin, für mich jedoch gehört die Erinnerung an die Jugend zum Besten im Alter. Ich habe eher Angst, dass die Erinnerung an die ersten Jahrzehnte schwindet. Das ist für mich das Schlimmste: Der allmählich Verlust. An Vitalität, Kraft, Möglichkeiten. Nicht mehr der zu bleiben, der ich bisher gewesen bin. Mein jahrzehntelang aufgebautes Ich zerbröseln zu sehen ist schlimm.

„Damit kann ich im Alter umgehen“, sagt eine neben mir in den Film gebeamte Seniorin. „Vielleicht ist das der Kern des Altwerdens: physische Reduktion. Mich belastet mehr, dass mein Wirkungskreis schwindet. Mein Können, meine Erfahrungen; ich werde weniger gebraucht. Ich fühle mich zunehmend auf mich zurückgeworfen; beschäftige mich mit meinen Zipperlein mehr als mit anderen Menschen.  Es wächst der Eindruck, meine Hauptaufgabe beim Altern besteht darin, andere nicht zu stören oder gar zu belasten. Das ist das Schlimmste am Altwerden.“

Ich füge dem Drehbuch eine neue Szene hinzu. Hi Jungvolk: Gegenfrage: „Was ist das Beste am Altwerden?“ Das Lagerfeuer scheint heller; die Gesichter der drei Alten lächeln. „Doch, da gibt’s einiges, worauf Ihr Euch Jungen freuen könnt. Befreiung von manchen Lasten und Pflichten: No job, no boss, no stress.“

„Ich bin wählerischer geworden, mit wem ich meine Stunden verbringe. Ich mache jetzt wenig faule Kompromisse, was soziale Kontakte angeht.“ „Ich benötige weniger. Ich wurde genügsamer. Das  Wichtige habe ich: Familie, Dach über den Kopf, Essen und Kleidung. Von letzteren eher zu viel als zu wenig; kein Kaufzwang mehr.“

„Mein klammheimlicher Wettbewerb hat sich gelegt. Ich vergleiche mich weniger mit anderen, um selbst besser dazustehen. Ich suche jetzt die Gemeinsamkeiten.“

„Mich freut zu sehen, was noch so alles geht im Alter. Doch, ich vergleiche, vor allem mit meinen Eltern in deren Seniorentagen. Da geht’s mir um Längen besser; und das freut mich. Und da schöpfe ich Hoffnung, dass dank des Fortschritts meine Kindern und Enkel in deren Alter noch besser dastehen werden als ich.“

„Sag‘ mal, bist Du wirklich up-to-date?“ „Nein, ich spiele doch gerade in einem Roadmovie in den Neunzigern mit. Da blickten wir positiv in die Zukunft.“  Alvin lächelt durch seinen strubbeligen Bart .

Cut.

Machen Roadmovies Sinn, ohne Glauben an die Zukunft? Ich sehe sie als Metaphern für die Reise durchs Leben. Die ständige Veränderung der Umgebung,  die eigene Bewegung und neue Begegnungen. Der Blick eines Roadmovies richtet sich nach vorne, über den Lenker, auf den Weg vor sich. Und sei es in den Sonnenuntergang.

Wahrscheinlich meinte das Alvin so: „Vergiss, was hinter einem liegt. Für  mich zählt nur, was vor mir liegt“. Bei Alvin war es die Versöhnung mit dem schwerkranken Bruder. Filmende. Übrigens: Basierend auf einer wahren Geschichte.

Euer Global Oldie

„The Straight Story“ 1999; ARTE

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

weitere Beiträge

Die Rezepte unserer Omas

Skip to content