10,2 Sekunden. Mit dieser Zeit kann man Deutscher Meister im 100-Meter-Lauf der Männer werden. Oder man versucht, in Nürnberg von der Scheurlstraße kommend die vierspurige Regensburger Straße in Richtung Marientunnel stressfrei zu überqueren. Denn länger dauert die Grünphase nicht. Ampeln machen grantig.
Als wir jung waren, respektierten wir noch unsere Lichtsignalanlagen. Selbst wer um 4 Uhr morgens eine einsame Straße überqueren wollte, blieb bei Rot stehen. Geändert haben wir uns nach geglückten Überquerungen der Großglockner-Hochalpenstraße. In Rimini oder Caorle lernten wir, dass Ampelfarben eher Hinweise denn Befehle darstellen.
So unpopulär wie heute war die Ampel damals nicht. Aber es mag die Bundesregierung trösten, dass auch deren Anfang schwer war. Die weltweit erste Lichtzeichenanlage wurde am 10. Dezember 1868 auf dem Parliament Square in London aufgestellt. Das mit Gaslicht betriebene Gerät explodierte nach kurzer Zeit.
Die erste deutsche Ampel wurde im Dezember 1924 in unserer Hauptstadt in Betrieb genommen. Über den Potsdamer Platz verliefen damals 26 Straßenbahn- und fünf Buslinien. Täglich überquerten 20.000 Autos den Platz, am dortigen Bahnhof wurden über 80.000 Reisende gezählt. Zusätzlich waren Pferdefuhrwerke unterwegs. Polizisten, die den Verkehr regeln wollten, wurden immer wieder mal über- oder angefahren. Berliner Chaos halt. Linderung brachte ein achteinhalb Meter hoher Verkehrsturm, in dem ein Polizist die Signale mit einem Hebel steuerte.
Schon damals galt: Der motorisierte Verkehr muss fließen. Und so ist das geblieben. Autofahrer haben Vorrang, Fußgänger sollen nicht trödeln. Gemäß der Richtlinie für Lichtsignalanlagen, kurz RiLSA, dürfen Verkehrsplaner für sie ein Tempo von 5,4 km/h annehmen. Wer das mit zwei Einkaufstüten, einem Kleinkind auf dem Arm oder mit einem renitenten Mops im Gefolge schafft, ist reif für jeden Wanderverein.
Und wer kennt nicht den Stress, wenn die Ampel nach Betreten der Fahrbahn auf Rot springt? Die dann verbleibende so genannte Räumzeit beträgt zum Beispiel an der Schweigger-/Ecke Allersberger Straße in Nürnberg 6,2 Sekunden. Für zwei Fahrspuren, an denen ungeduldige Autofahrer bereits mit dem Standgas spielen.
Ich gehe gerne zu Fuß, frage also: Muss das so sein? Wir Fußgänger sind, erst recht im fortgeschrittenen Alter, die Tauben des Straßenverkehrs. Wir weichen aus, wenn es wegen abbiegender Autos, eiligen Radfahrern oder E-Scootern auf dem Gehsteig gefährlich wird. Verdienen nicht wir die größtmögliche Fürsorge unserer Stadt oder Gemeinde?
Das schon, aber wir kriegen sie nicht. Nun kann man sagen, dass man sich bei 535 Ampeln, die es alleine in Nürnberg gibt, nicht um jeden Schlurfer kümmern kann. Und doch gibt es andernorts zarte Veränderungen. In Bremen werden an Pilot-Signalanlagen herannahende Fußgänger mit Sensoren erkannt und bekommen schneller Grün. In Hamburg gibt es eine Ampel, die erst auf Grün springt, wenn vor ihr Autos stehen. In der niederländischen Stadt Deventer werden die Ampeln an 52 Kreuzungen von Algorithmen gesteuert. Im Zweifel haben Fußgänger Vorrang.
Ginge das auch bei uns? Schwierig. Mir fallen mindestens vier Parteien ein, die dem motorisierten Verkehr huldigen. Also gehen wir zügig. Und denken uns: Wow! Heute warst du schneller als der Deutsche Meister.
Text: Klaus Schrage
Cartoon: Sebastian Haug