Hello All, habt Ihr heute schon gelogen? Ich schon. Nein, ich schäme mich nicht. Denn als Alter bemühe ich mich, anderen keine unangemessenen Sorgen zu bereiten oder durch konsequente Ehrlichkeit zu düpieren. Lügen ist eine Variante der Täuschung. Täuschen bewährt sich seit Jahrmillionen als Überlebensstrategie vieler Kreaturen. Sie kann vor Fress- und anderen Feinden schützen. Täuschung klappt am besten mit Fantasie und Überzeugungskraft. In dieser Hinsicht bewährt sich im Tierreich die Mimikry; die Fähigkeit, als ein wesentlich gefährlicheres (Hornisse) oder völlig harmloses Wesen (Blümchen) oder gar als Teil der Umgebung (Koralle) aufzutreten.
Bei allem Respekt vor den Wandlungskünsten der Kraken: Keine Kreatur kann sich so gut verstellen wie der Mensch. In Mimik, Gestik, Wort, Schrift und Bild: mehrdimensionales Lügen. Das klingt negativ. Jedoch halte ich maßvolles Lügen für eine der wichtigsten Errungenschaften, um den sozialen Frieden zu wahren. Ohne bisweilen vorgetäuschte Höflichkeit, Dankbarkeit und Abschreckung wäre das Miteinander in Familien, Freundes- und Kollegenkreisen unerträglich, vermutlich sogar unmöglich. Wie so oft, macht die Dosierung und der Zeitpunkt den Unterschied zwischen artigem Schwindel („Oma, was bist du fit“) und böswilligem Betrug („Opa, ich habe eine neue Handy-Nummer, ruf mal zurück“).
Weise Ostasiaten wissen um den Wert der gegenseitigen Gesichtswahrung . Für sie ist Harmonie das Leitmotiv des Handelns. Diese Rücksichtsnahme fordert ihren Tribut in Form von Unterdrücken wahrer Gefühlsregungen. Was von Westlern bisweilen als Falschheit ausgelegt wird. Lüge aus Nächstenliebe. Dabei heißt es auch im Westen: Der Klügere gibt nach; vielleicht mit etwas weniger Lächeln, aber ebenfalls unter Verzicht auf die gefühlte Richtigkeit. Das gütige Lächeln mancher Alten ist vielleicht auch nur der kluge Verzicht auf miese Stimmung.
Als höchste Entwicklungsstufe der Lüge erachte ich die Selbsttäuschung. Die Gabe, sich selbst etwas einzureden, das weder so ist noch jemals so war. Ein gewisses Maß an Realitätsferne scheint sich im Alltag zu bewähren. Es schafft Distanz zur kruden Wirklichkeit; vergönnt Seelenfrieden und Milde mit sich selbst: Zeitgewinn und Lebensqualität. Man denke nur an so manche kreative, ja geradezu selbstvergessene Formen von Autobiographien. Siehe dazu meinen kommenden Blog.
Was mich zum allgemeineren Thema Erinnerung bringt. Denn Erinnerung und Täuschung sind untrennbar miteinander verwoben. Was Psychologen, Verkehrsrichter, Ehegatten und Enkelkinder tagtäglich erleben: Die Erinnerung ist kein verlässlicher Datenspeicher. Was nicht an der begrenzten Speicherkapazität der Neuronen, Synapsen oder dem kalendarischen Alter der Ereignisse liegt. Sondern an der evolutionären Mission des Erinnerungsvermögens: Es soll die Überlebens- und andere Chancen verbessern. Erinnerung funktioniert im Hinblick auf die Zukunft. Sie hilft, Unangenehmes oder Gefährliches künftig zu meiden und bei Aktuellem Vorteile zu ergattern. Das Streben nach objektiver Wahrheit ist eine honorige Anforderung, die sich dem Überlebenstrieb, der Rangelei um sozialen Status und hormonelle Belohnung meist stillschweigend unterordnet. Das nennt man dann Lebenserfahrung. Alte Hasen wissen, wie das läuft: mit Hakenschlagen; Täuschung der Laufstrecke.
Wenn ich Frieden will, erinnere ich den letzten Zank als gar nicht so schlimm. Will ich mich hingen rächen, so war jener Streit unterirdisch übel. Ein Heldenepos ist kein kollektives Logbuch aus fernen Zeiten. Es warnt jedoch drastisch vor Feinden, erklärt den Nutzen von Tugenden, begründet sozialen Zusammenhalt, unterhält die Zuhörer und bringt dem Erzähler Aufmerksamkeit. Der Mensch, ein „Story Telling Animal“*, ein schöpferischer Geschichtenerzähler, kein neutraler Faktenaufzähler.
Und wie steht es um die Lüge in ihrer modernsten Form, als Fake News? Nichts Neues auf Erden, befürchte ich. Alternative Fakten kursieren seit Menschengedenken. Siehe das 8. Gebot, das Rufmord, Falschmeldungen und Vorurteile in die Sünden-Bestseller Liste aufnahm. Nur bedienen sich die Fake News besonders effizienter technischer Möglichkeiten. Sie belügen in Sekundenbruchteilen Millionen Leute weltweit; mehr als auf einem überschaubaren Marktplatz der Antike. Wir gelasseneren Alten müssen vorsichtiger die möglichen alternativen Absichten der Absender auszuloten und bisher verlässliche Informationsquellen durch weitere ergänzen.
In diesem Zusammenhang habe ich in meinen verflossenen Managertagen gelernt, der Intuition, dem Bauchgefühl zu trauen. Wenn mich nun im Alter der eine oder andere Sinn graduell im Stich lässt, vertraue ich meinem Bauchgefühl noch mehr . Oft warnt es mich spontan, dass etwas faul ist, oder gibt Entwarnung: Du darfst vertrauen. Nicht gelogen.
Euer Global Oldie
*The Storytelling Animal: How Stories Make Us Human Paperback, Jonathan Gottschall, April 2013