Was ist das eigentlich, Glück? Oder Zufriedenheit? Hängen diese Gefühle vor allem vom eigenen Erleben ab? Kann man Glück empfinden, während draußen in der Welt sich die Krisen häufen? Das Magazin sechs+sechzig sprach mit dem Neurowissenschaftler und Allgemeinmediziner Prof. Dr. Tobias Esch von der Universität Witten/Herdecke über Gesundheit, Krankheit und die Nostalgie oder das Glück, nach Hause zu kommen.
Herr Professor Esch, Sie haben ein neues Buch geschrieben mit dem Titel »Wofür stehen Sie morgens auf?« Sie erörtern darin, warum es entscheidend für unsere Gesundheit ist, Sinn und Bedeutung im Leben zu finden. Wie kamen Sie zu der Annahme?
Ich habe festgestellt, sowohl in eigener Beobachtung als auch in unseren Daten, dass Menschen selbst dann glücklich sein können, wenn objektiv vieles dagegen spricht. Wenn sie älter werden, wenn sie krank sind, wenn das Leben hart ist. Das hat mich fasziniert. Deshalb die Frage, wie gelingt es Menschen, die nicht mehr gesund sind, trotzdem glücklich zu sein?
Sie hatten selbst ein Aha-Erlebnis – als Pfleger im Krankenhaus, der täglich mit Leid und Tod konfrontiert wird.
Die Arbeit als Pfleger auf einer Krebsstation stürzte mich in eine echte Sinnkrise. Sollte ich mich mit dem Tod einfach so abfinden? Wofür lohnt sich das Leben, wofür sollte man sich morgens aufrappeln, wenn sich doch am Ende alles – und auch oft noch viel zu schnell – in Schall und Rauch auflöst? Inmitten all dieses Leids erfuhr ich eine fast wundersame Umkehr aus meiner Krise. Die Antwort, die ich während der Arbeit im Krankenhaus gesucht hatte, lag auf einmal auf der Hand. Der Sinn des Lebens war das Leben an sich. Das Sinnliche im Leben. Das Menschliche. Die Begegnungen, Berührungen, auch die Natur. Der Sinn war schlicht, dass man da war, Anteil nehmen konnte.
Welche Verbindung besteht zwischen Gesundheit und Glück?
Grundsätzlich kann man festhalten, dass die Idee, Gesundheit sei zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit »alles nichts«, so nicht stimmt. Dann würden alle Menschen, die nicht mehr gesund sind, »nichts« mehr haben, auch nicht glücklich sein können. Und das stimmt nicht: Wir sprechen hier vom sogenannten Zufriedenheitsparadoxon – dem Befund, dass Menschen, selbst wenn geradezu alles dagegen spricht und auch die Gesundheit nicht mehr gegeben ist, dennoch zufrieden sein können.
Sie bezeichnen Burnout als eine Unglückserkrankung. Weshalb?
Ja, die normale Definition ist »Überlastung durch zu viel Arbeit«. Das halte ich für falsch, aber immerhin wird Burnout jetzt überhaupt als Problem anerkannt. Es rührt in erster Linie daher, dass jemand sich selbst verloren hat, nicht mehr resonant ist mit der Welt. Das Problem ist, dass in manchen Branchen 70 bis 90 Prozent der Menschen mit ihrem Leben nicht im Einklang sind. Die Betroffenen leiden beim Burnout an einem gefühlten Stau an Vergnügen und Inspiration, an Lust und Entwicklung, der so massiv werden kann, dass man unter der Lawine und Belastung schließlich zusammenbricht. Äußere Faktoren, wie Stress und Überforderung, können diesen Zustand stark begünstigen, mitunter erst den Stein ins Rollen bringen.
Gibt es eine Glücksformel, die für alle Menschen gleichermaßen funktioniert?
Das Grundprinzip von Glück und Zufriedenheit ist überall gleich. Das liegt daran, dass unsere Biologie, das Belohnungssystem im Gehirn, uns anzeigt, wofür es sich lohnt zu leben. Jedoch ändern sich die Motive für Glück und Zufriedenheit über die Lebenszeit. Steht in der Jugend eher das lustbetonte Glück im Vordergrund, so ist es in der mittleren Lebenshälfte die Erleichterung, wenn der Druck des Lebens, die Rush Hour oder das Tal der Tränen, eine Pause einlegen – wenn ein Konflikt, ein Schmerz, eine Krankheit uns einen Moment lang in Ruhe lassen. Dann gibt es, aber nicht nur dann, in der zweiten Lebenshälfte, ein zunehmendes Gefühl von innerem Frieden – wenn man das Gefühl hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, eben angekommen zu sein.
Wie kann man einem Menschen, der vielleicht über Jahre hinweg krank ist, Verbundenheit als Heilmittel verschreiben?
Das Leben muss etwas mit mir zu tun haben. Das kann nicht der äußere Arzt als Pille verschreiben, das muss der innere Arzt tun. Also frage ich mich: Wofür stehe ich morgens auf? Welche Menschen inspirieren mich? Wogegen spüre ich innerlich eine Abwehr, wo fühle ich mich hingezogen? Sind das Menschen, Dinge, Ideen, Tiere, Gerüche, Klänge, Geschmäcker? Ist das mein Fußballverein, mein Chor, meine Theatergruppe, mein Dialekt? Tauchen Dinge und Orte auf, mit denen ich resonant bin, die mir das Gefühl geben, ich komme irgendwoher und gehe irgendwohin? Wo verspüre ich Zugehörigkeit? Mit diesen Fragen komme ich der Frage nach Heimaterleben und Verwurzelung deutlich näher.
Kann man sein Glück trainieren? Wenn ja, wie?
Durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil, wie Bewegung, Schlaf, gesunde Ernährung, Genuss. Auch Meditation und Achtsamkeit können helfen – also Momente der inneren Einkehr, Entspannung und Stressreduktion. Wichtig jedoch ist die Verbundenheit, ein spirito-kultureller Aspekt, was ich auch die »Vierte Dimension der Gesundheit« nenne. Wenn wir uns verbunden fühlen mit der Welt, mit den Menschen um uns herum, aber auch mit etwas Höherem. Wenn wir wissen, wofür wir morgens aufstehen.
Welche Rolle spielen genetische Faktoren bei der Veranlagung für Glück oder Unzufriedenheit?
Die Gene spielen eine Rolle, wie auch die Herkunftsfamilie oder Kultur, in die man hineingeboren wird. Letztlich aber ist die Bedeutung der Gene in der Wissenschaft immer weiter heruntergestuft worden, heute gehen wir etwa von einem Drittel der Lebenszufriedenheit aus, die an unserer genetischen Grundausstattung liegt. Der Rest scheint eher gestaltbar zu sein.
Sie behaupten, ältere Menschen seien am glücklichsten.
Unsere Untersuchungen haben tatsächlich gezeigt, dass das Zufriedenheitsgefühl mit wachsendem Lebensalter ansteigt. Die Tendenz ist überall ähnlich, die Zufriedenheit steigt etwa ab dem 60. Lebensjahr bis in die Sterbephase, da geht sie dann oft noch einmal runter. Das Paradoxe: Die Glückseligkeit oder Zufriedenheit – wie auch eine aufkommende Dankbarkeit – sind primär innere Zustände. Sie sind leise. Aristoteles führt hier die Eudaimonie an, gewissermaßen eine Art Lebenslohn, der im Alter offenbar ausgezahlt wird. Aber man spricht nicht darüber. Erst wenn wir die Leute aktiv befragen, offenbaren sie sich. Etwa 80 bis 90 Prozent der Älteren und Hochaltrigen berichten dies.
Sie werden häufig »Glücksforscher« genannt, stört Sie das?
Ja, aber ich habe aufgehört, mich dagegen zu wehren. Den Beiklang von Oberflächlichkeit mag ich nicht, von Wellness, von rosaroter Brille. Ich betone, dass das, was wir beforschen, existenziell ist. Ich bezeichne mich lieber als »Zufriedenheitsforscher«.
Text: Horst Otto Mayer
Fotos: pexels.com/cottonbro; Universität Witten/Herdecke
Kontakt
- Prof. Dr. Tobias Esch, Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung (IGVF)
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- Institut: uni-wh.de/igvf