Hello All,
Radeln hatte ich als Schulkind auf dem damals schon betagten Rad meiner Mutter gelernt. Es war mir viel zu groß. Der Sattel reckte sich spöttisch weit über die Reichweite meiner Beine. Doch es hatte einen Tiefeinstieg. So konnte ich auf beiden Pedalen stehend lostreten und mit hochgereckten Armen den Lenker und Bremshebel fassen. Das funktionierte, machte Spaß und ich kann mich an keinen wesentlichen Sturz erinnern. Dennoch war es mir peinlich, so unterwegs zu sein. Denn am Schutzblechs des Hinterrades spannte sich beidseitig ein buntes Netz zwischen Gepäckträger und Nabenhalterung, um flatternde Rockzipfel von den Speichen abzuhalten. Der verräterische Hinweis darauf, dass ich auf einem Damenrad strampelte. Während andere Jungs schon auf einem Jugendrad mit schräger oder gar waagrechter Längsstange fuhren und lässig von einem passenden Sattel aus in die Pedale traten. Ich war kein würdiges Mitglied jener Gruppen.
Mein Wunsch nach einem rollenkonformen Rad musste sich lange gedulden. Danach war ich sechzig Jahre lang mit würdigen Herrenrädern unterwegs. Ein paar tausend Kilometer jährlich; gerade als Ruheständler, mit Stolz auf die verbliebene Fitness.
Bis ich kürzlich zwei Mal, fast aus dem Stand umkippte, in gnadenloser Zeitlupe. Was mir ein paar Prellungen und harmlose Schrammen einbrachte. Die beißende Peinlichkeit schmerzte umso mehr. Beide Male war ich beim Ab- bzw. Aufschwingen des gegenüberliegenden Beines über den Sattel an diesem hängen geblieben. Eine jahrzehntelang unbewusste Bewegung ist erodiert. Die Hüfte gönnt mir nicht mehr zuverlässig die ausreichend hohe Grätsche; lässt mich straucheln und in den Straßenstaub beißen. Bitter, erschreckend, peinlich.
Reuig stellte ich den Sattel deutlich tiefer. Damit gelingt mir wieder der gewohnte Beinschwung über den Sattel. Doch so ist die Tritttiefe zu niedrig für effektives Radeln. Ich haderte mit den Optionen. Das rechte Bein ganz bewusst über die Schmerzgrenze in der Hüfte hinaus über den Sattel zu schleudern, erschien mir zu riskant; zu abhängig von der variablen Tagesform. Mit zu tiefem Sattel zu fahren ist ermüdend und unbequem. Ganz auf das Rad zu verzichten will ich nicht.
Die aktuelle Lösung fiel mir schwer, sehr schwer. Ich entstaubte, ölte und pumpte das stillgelegte Fahrrad meiner Frau auf. Ein gut erhaltenes Damenrad mit Tiefeinstieg. Gut beleuchtet, mit drei Bremsen, Nabenschaltung, Gabelfederung, bequem aufrechter Lenkstange und passend einstellbarer Sitzhöhe. Ich tauschte den breiten Damensattel gegen meinen abgenutzten schmaleren Herrensattel aus; montierte meinen alten Tacho mit all den gefressenen Kilometern, die Fahrradtasche und meine unüberhörbare Chinafahrradglocke um. Fertig.
Ich kann wieder Radeln ohne Angst, am banalen Beinschwung zu scheitern; einfach das rechte Bein über den niedrigen Tiefeinstieg heben. Ohne buntem Rockfangnetz am Heck ist das nun ein Tiefeinsteiger-Herrenrad, versuche ich mir zu suggerieren; mit mäßigem Erfolg. Alter Mann mit Tiefeinsteigerrad unterwegs bleibt uncool. Aber weniger peinlich als alter Mann, der auf dem Asphalt liegt und versucht, unter dem Rad hervorzukriechen. Vom wenig eitlen Ende einer steilen Lernkurve grüßt Euch
Euer Global Oldie