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Zu Besuch beim schelmischen Radsherrn

Man hat nicht zu viele Fahrräder, man hat höchstens zu wenig Platz – sagt einer, der es wissen muss: Helmut Walter betreibt bei ­Abenberg das Fahrradmuseum Pflugsmühle.

Obwohl nur einen Steinwurf vom Biergarten entfernt, liegt der Eingang doch ein wenig versteckt. Hat man ihn gefunden, betritt man eine Welt von gestern: Es geht um Alltagstechnik aus über zwei Jahrhunderten, bei der ganz viel Zeitgeschichte mitschwingt. Wir sind zu Gast im Fahrradmuseum Pflugsmühle unweit von Abenberg im Landkreis Roth, in dem sich alles um historische Zweiräder dreht. Der »Radsherr« Helmut Walter gewährt uns eine Audienz.

Wenn es nach Helmut Walter geht, dann ist Fahrradfahren vor allem auch eine spaßige Angelegenheit. Das komplette Museum ist durchzogen vom leisen, schelmischen Humor des 72-Jährigen, der selbst ein überzeugter Pedaleur ist – seit vielen Jahren. Der Umwelt wegen, eh klar, vor allem aber auch wegen der Technik. Und weil ihn Charme und Stil nachhaltig faszinieren, mit denen unsere Vorfahren die legendäre Laufmaschine von Carl Drais 1817 immer weiter verbesserten und verfeinerten. Sein ganzes spätes Berufsleben ist der Elektriker in die Arbeit geradelt, von Wassermungenau nach Schwabach und später sogar bis nach Nürnberg und wieder zurück. Jeden Tag bei Wind und Wetter, 40 beziehungsweise 70 Kilometer. Es musste schon bemerkenswertes Krötenwetter sein oder aber Eis und Schnee, dass er mal bei einem Arbeitskollegen im Auto mitgefahren ist.

»Wir sind kein pädagogisches Museum«, stellt Helmut Walter gleich zu Beginn des Rundgangs klar. Was da in der Pflugsmühle auf 200 Quadratmetern zu sehen ist, ist (s)eine Sammlung. Eine Zeitreise durch zweihundert Jahre Fahrradgeschichte, »wie der Mensch das Fahrrad und wie das Fahrrad den Mensch verändert hat …« Ein Archiv, das Zeugnis ablegt von großartiger deutscher und internationaler Ingenieurskunst. 200 Kettenfahrzeuge zeigt Helmut Walter in der Pflugsmühle. BMX und »Bonanza« (nur echt mit Blinker, Hupe, Drei-Gang-Anzeige und Fuchsschwanz) kennt man. Doch was ist mit dem »Electra«, mit dem die Firma Hercules schon 1997 das E-Bike vorweg nahm (hier noch in Form eines Anbaumotors)? Oder mit dem frühen Lastenrad, das ebenfalls Hercules bereits in den 1930er Jahren auf den Markt warf?

Hoher Gebrauchswert der alten Exemplare

Was begeistert Helmut Walter am Fahrrad und seiner Geschichte? Warum der Blick zurück? »Die haben damals etwas gebaut, das Sinn gemacht und den Leuten eine Erleichterung gebracht hat – nicht nur einen Mehrwert für Händler«, erklärt der Handwerker, der seit 2010 im Ruhestand ist. Und sein gar nicht mal so kleines Museum seit 17 Jahren führt. Los ging’s im alten Schulhaus in Wassermungenau – in der ehemaligen Hausmeisterwohnung im 1. Stock, die schnell zu klein wurde. Im März 2013 folgte der Umzug in die alte Backstube der Pflugsmühle, die erst einmal hergerichtet werden musste. Über viele Monate war mächtig viel zu tun für den handwerklich begabten jüngsten Sohn einer Hopfenbauernfamilie. Der Aufwand hat sich gelohnt: Das zwischen Windsbach und Spalt direkt an der fränkischen Rezat gelegene Fahrradmuseum Pflugsmühle ist die Anreise mehr als wert.

Viel Patina in zwei Räumen

Wichtig: Hier darf man das Alter sehen. Helmut Walter kümmert sich um die technische Instandsetzung seiner Zweiräder. Sein Ziel ist es jedoch, den Urzustand zu erhalten. Aufpoliert und verschönbessert wie bei anderen Sammlungen wird nichts, nur das Nötigste aufgehübscht. Patina darf sein, mehr noch: es braucht sie. Und da ist wahrlich wacker viel Patina in den zwei Ausstellungsräumen …

Vor allem seltene Exemplare haben es Helmut Walter angetan, und die schrägen Ausreißer, mit denen versucht wurde, neue Wege im Fahrradbau zu gehen. Manches hat nicht wirklich funktioniert, anderes hingegen richtig gut. Durchgesetzt hat sich oftmals beides nicht. Von kleinen und großen tollen technischen Ideen und Innovationen wimmelt es nur so in dem Museum: Gesundheitslenker, Radlaufglocke oder der kleine Fahrradständer unten am Pedal, der immerhin mal deutsches Reichspatent war, jedoch wie so viele andere praktikable Ideen irgendwann wieder in Vergessenheit geriet.

Auch Versuche, den Antrieb neu und anders zu gestalten, beschäftigten über die Jahrzehnte und Jahrhunderte die klugen Geister in den Tüftlerstuben der Fahrradfabriken. Ergebnisse sind hier etwa die »Hirondelle« (»Schwalbe«) aus der Manufacture Francaise d’Armes et Cycles, bei der am Berg plötzlich rückwärts getreten wurde, das »Cardano« von der Firma Fendt, das in den 1980er Jahren den Ansatz eines kettenlosen Antriebs verfolgte, und natürlich das sagenhafte Hercules »Cavallo«, ein großer Flop der Fahrradgeschichte. An diesem Zweirad, das mittels Ganzkörper-Reitbewegung vorwärts getrieben wird, hängt Walters Herz ganz besonders: 16 der 2000 gebauten »Cavallos« hat er in seinem Stall stehen – und bietet regelmäßige Ausritte auf ihnen an, auch für Neueinsteiger.

Bielefeld, Suhl und Nürnberg, die Rad-Standorte

In den 1930er Jahren kamen Kühlerfiguren auf den Schutzblechen auf.

Thematisch hat sich Helmut Walter nie spezialisiert. Seine Sammlung ist breit aufgestellt, Schwerpunkt sind freilich die drei großen alten Standorte der Fahrradfabrikation in Deutschland: Bielefeld, Suhl und Nürnberg. »Wussten Sie, dass selbst Weißenburg mal eine Fahrradfabrik hatte? Die Firma Scharp, die von 1946 bis 1954 gefertigt hat …« Hat der »Radsherr« einen Lieblings-Drahtesel? »Ich bin lange ein Miele-Oparad aus den 50ern gefahren. Zur Zeit fahre ich eine Triumph von 1936, beide ohne Schaltung.«

Doch nicht nur ganze Räder gibt es in der alten Mühle zu bewundern, sondern auch Details und Zubehör wie die kunstvollen Steuerkopfschilder mit den Firmenlogos oder die nicht minder liebevoll designten Schutzblechreiter: Kühlerfiguren auf dem Schutzblech über der Gabel, die um 1930 aufkamen und ab 1960 verboten wurden. Technische Daten und Besonderheiten, Informationen über die ehemaligen Besitzer und überhaupt alles, was über die (Vor)Geschichte des jeweiligen Drahtesels bekannt ist, findet sich auf kleinen Kärtchen verzeichnet, detailverliebt und leidenschaftlich zusammengetragen, mit Herz und – wir hatten es eingangs schon erwähnt – Humor präsentiert.

Ein vergilbtes Plakat an der Wand wirbt für eine Gesäßcreme. Gab es wirklich mal eine spezielle Paste für das wunde Radler-Hinterteil? Der Radsherr lächelt, wirft eine »Wer weiß das schon?«-Handbewegung in den Raum … und ist schon beim nächsten Ausstellungsstück: Einem BuG. Diese drei Buchstaben stehen für »Billig und gut«. Ein Nürnberger Großhändler kreierte die kurzlebige Marke, unter der neutrale Neufahrräder als BuG deklariert und an seine Nürnberger Fahrradhändler als Eigenmarke vertrieben wurden. »Hibiduri« steht für »hier bist Du richtig«, »DabeRa« für das beste Rad. Marktschreierei war Teil des Spiels in der goldenen Zeit des Zweirads, bevor das Automobil für die breite Gesellschaft erschwinglich wurde.

Der heilige Dreiklang

Ältere Besucher erinnern sich noch an Zweiräder mit Motorunterstützung – und an den heiligen Dreiklang Mofa (Motorfahrrad), Moped (mit Pedal) und Mokick (mit Kickstarter). NSU ist hier noch ein harmlos-unverdächtiger Firmenname, das Kürzel steht für die Stadt Neckarsulm, wo ab 1880 Fahrräder, Motorräder und Autos gebaut wurden, bevor die Firma 1969 im Audi-Konzern aufging. Der vergessene Radlergruß »All Heil!« entspringt einer Zeit, als wilde Hunde und miese Straßen den Zweirad-Pionieren das Vorankommen im öffentlichen Raum schwer machten – weshalb sie oft mit Alarmpistole, Knallerbsen und Hundepeitsche unterwegs waren. »Der Kampf um die Straße begleitet den Pedaleur seit jeher, nur die Waffen wurden mit den Jahren wuchtiger«, sagt Helmut Walter und bedauert, dass das Radfahren allen Lippenbekenntnissen zum Trotz politisch nicht gewünscht ist. »Deutschland ist ein Autoland, aber Nürnberg war eigentlich schon immer eine Fahrradstadt. Nicht nur, weil hier viel gefertigt wurde – das Radfahren war hier schon früh erlaubt …«

Die Geschichte des Zweirads war stets eng mit dem Zeitgeist und mit der Zeitgeschichte verbandelt: Als vor und nach dem 1. Weltkrieg der Kautschuk knapp wurde, musste es ohne Gummibereifung gehen – wie eine frühe Victoria von 1910 zeigt. Die Triumph von 1944 hingegen fällt durch ihre schwarze Radnabe auf. Hintergrund: Der selbsternannte Führer hatte 1940 Chrom verboten, um seinen Weltkrieg weiter voran zu treiben. Das Ergebnis ist bekannt, ein paar Jahre später baute Westfalia dann Versehrtenfahrstühle, die Überlebenden mit weggeschossenen Beinen das Vorankommen erleichtern sollten. Ein kleiner Spiegel der Geschichte sind auch die Ringe auf dem Schutzblech eines »Bonanza«-Rads von 1972: ein freudiger Verweis auf die Olympiade im selben Jahr.

Das Feuerwehr-Meldefahrrad

Das landwirtschaftliche Transportrad hatte sogar Platz für Milchkannen (rechts).

Ein weiterer Hingucker in der Sammlung sind die ausgedienten Dienstdrahtesel: Das Feuerwehr-Meldefahrrad aus dem Jahr 1922, ausgestattet mit Brecheisen, Spaten, Feuerlöscher und einer Trompete, in die der »Radsherr« nur allzu gerne hinein bläst. Arztfahrrad, Postfahrrad, ein Militärvelo aus der Schweiz – viele Berufsgruppen waren früher ganz selbstverständlich aus eigenem Antrieb auf zwei Rädern unterwegs. Das landwirtschaftliche Transportrad hat eine spezielle Vorrichtung unter dem Lenker, in die man zwei Milchkannen einhängen kann.

Zehn Hundertjährige hat Helmut Walter in seiner Sammlung stehen, das älteste Stück stammt aus dem Jahr 1880. Dazwischen finden sich aber immer wieder auch junge oder sogar neue Räder. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat sich der »Radsherr« ein modernes Hochrad rausgelassen: Von der tschechischen Firma Mésicek (»kleiner Mond«), die nach eigener Aussage keine Kopien historischer Vorbilder baut, sondern »komplette Eigenentwicklungen mit dem gewissen Blick zurück«. Kostenpunkt: 3210 Euro. »Für die Montage kam der Chef höchstpersönlich vorbei und hat sich als allererstes weiße Handschuhe angezogen …«

Die meisten Ausstellungstücke im Fahrradmuseum Pflugsmühle sind einsatzfähig. Noch wichtiger ist es Helmut Walter jedoch, sie zu zeigen – im Museum, aber auch draußen auf der Straße. Deshalb bewegt er seine Oldtimer immer wieder im Alltag. Und lebt und pflegt das Velo-Brauchtum. Das kann bisweilen ganz schön nerdig werden, etwa wenn man mit vielen anderen Verrückten als Märchenfigur verkleidet auf einem Klapprad ohne Gangschaltung einen Berg hoch rast (»Kalmit-Klapprad-Cup 2018«, einfach mal auf YouTube gucken) oder in historischer Kleidung einen Ausflug auf einem antiken Hochrad unternimmt. Wie in vielen Sammlerfamilien, so stellen auch bei den Walters für die anderen Familienmitglieder die Parameter Geduld und Nachsicht die Weichen fürs gemeinsame Glück. Weil: Wenn du es nicht fühlst, dann kannst du es nicht verstehen. »Diesen Teil haben wir schon hinter uns«, nickt Helmut Walter. »Heute radeln sie manchmal sogar mit!«

Text: Stefan Gnad
Fotos: Michael Matejka

Information

Fahrradmuseum Pflugsmühle, Pflugsmühle 1b, in 91183 Abenberg. Öffnungszeiten sind telefonisch vereinbar. Der Eintritt ist frei, das Museum ist barrierefrei. Infos und Anmeldung unter www.der-radsherr.de und unter Telefon 098 73/97 67 44.

Und: Helmut Walter nimmt keine Räder mehr an, nur noch Kleinteile und ausgewähltes Zubehör.

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