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Stecken, Stab, Stock

Hello All,

es gibt Tage, an denen ich beim Rausgehen spontan zum Stock greifen möchte. Wegen des glitschigen Laubes, und anderem. Dreibeinig das Gleichgewicht stabilisieren, Hüfte und Kreuz entlasten, eine Tastsonde, das sind völlig vernünftige Ansinnen. Aber ein Stock in meinem Alter; wie sieht das denn aus? Da kann ich mir ja gleich ein Schild umhängen mit „motorisch unzuverlässig“ oder „Achtung Taschendiebe: hier kommt leichte Beute“. Die Furcht vor dem Stock sitzt tief in mir: Sentimentaler Abschied vom fitten Selbstbild, verletzte Eitelkeit, soziales Stigma. Der Gehstock, raunt die eine miesepetrige Stimme in mir, ist die leichte Einstiegsdroge zu noch härteren Mobilitätshilfen wie Krücke, Walker, Treppenlift und Rollator. Du gerätst auf die gebeugte Bahn.

Sei nicht albern, sagt, die andere, positive Stimme in mir. Denk in größeren Dimensionen. Holzstöcke sind Elemente unserer kulturanthropologischen Entwicklung. Genauso fundamental wie steinerne Beile und Klingen. Seit Jahrmillionen bilden Mensch und Stock eine erfolgreiche funktionale Einheit. Mit Stöcken haben wir Menschen unsere Reichweite über die Armlänge hinaus gesteigert; Stöcke halfen beim Buddeln, Hangeln, Spießen und Werfen; sie haben unsere Kraftentfaltung dank Hebelwirkung potenziert, lebensrettende Distanz zu Dreck und Gefahren beschert; unsere Hände vor Verletzung geschützt. Was soll an einem so vielseitig bewährten Kulturgut peinlich sein?

Stolze Masai-Hirten in Kenia oder den „salto del pastor“ springende Hirten auf den kanarischen Inseln würden nie auf ihre Stecken als Werkzeug und Standessymbol verzichten; egal welchen Alters.  Wer würde wochenlang auf dem Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela pilgern ohne einen knorrigen Stock, samt Muschelemblem?  Nachdem 1695 die englischen Besatzer den irischen Männern das Tragen von Waffen verboten hatten, entdeckten unverzagte irische Herren den robusten Charm von Gehstöcken. Manche dieser stilvollen Prügel hatten zudem ein Innenleben wie Stiletts und Schnapsampullen.

Gehstöcke mutierten zum Symbol von Stärke und Macht in Form von Marschallsstab und Zepter. Selbst ohne Bodenkontakt stützen sie dann ihre Träger: aus der physischen wird eine soziale Stütze. Der späte Winston Churchill und die betagte Queen konnten sich dank ihrer Stöcke würdig auf eigenen Beinen halten; beide alles andere als Schwächlinge, trotz krummer Gestalt. Charly Chaplin’s Tramp, Dr. House, Yoda und John Hammond peppten ihre legendären Leinwandcharaktere mit Stöcken auf.

Mit solchen Vorbildern vor Augen muss man nicht zum Paar Walking Stöcke greifen, wenn gar kein nordisches Training oder alpine Touren anstehen. Diese Mimikry fliegt sowieso schnell auf beim Anblick des Vorwärtstriebes. Ob ein Stock in der Hand ein Zeichen der Schwäche oder gar der Wehrhaftigkeit ist, hängt viel davon ab, wie man ihn hält, schwingt und setzt. Als Kind hatte ich meinen Großvater bewundert, mit welchem Elan er seinen Wanderstab an der Hand hin und her tanzen ließ; niemand wollte in seinen Aktionsradius geraten, schon gar nicht freilaufende Hunde oder Brennnesseln.  Heutzutage würde mein Großvater mit seinem weit schwingenden Stock auch Gehwegvandalen auf E-Roller, Räder und vier Beinen auf Distanz und sich selbst aufrecht halten. Es lebe der Stock.

Euer verstockter Oldie

 

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