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Was macht die Klobrille an der Ampel?

Liebe Leute, die ihr in den feinen Stadtteilen oder auf dem Land wohnt – ihr wisst nicht, was euch entgeht. Hier verschanzen sich die Leute nicht in ihren Häusern, nein, sie lassen einander teilhaben an ihrem Leben. In meiner Gegend zum Beispiel kriege ich täglich mit, wenn meine Nachbarn sich gerade neu einrichten und ihr altes Zeug loswerden müssen. Oder vom Neuerungswahn erfasst sind. Sehr gern mustern sie derzeit alte Matratzen aus – zur Zeit ist das richtig in Mode. Es dient der Hygiene, und das ist auch gut so. Hemmungslos trennen sie sich auch von Fernsehgeräten, Kinderkommoden, Farbkübeln, Kratzbäumen, Sofas und Sesseln – was eben der Mensch so zu Hause hat. Hausmüll kommt dazu, als Garnierung sozusagen, irgendwie dazwischen geknallt. 

Die Pingeligen unter ihnen schleppen das Zeug an die Ecke, an der Glas- und Altkleidercontainer ihren Platz haben. Andere gehen pragmatisch vor und verwenden einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt von nebenan (man muss den Krempel ja nicht zwingend per eigener Muskelkraft transportieren!). Die weniger Peniblen stellen den Kram vors Haus und manche übertreiben sogar: Sie legen noch einen Zettel dazu, auf dem steht »Zu verschenken«. Neulich lehnte eine Klobrille an einer Verkehrsampel an der Hauptstraße, die durch unseren Kiez führt. Das war eine neue, phantasievolle Ablagestelle. 

Spannend zu beobachten, wie sich Sör, der städtische Reinigungsbetrieb, und meine Nachbarn einen Wettkampf liefern: »Wer ist schneller«. Meist gewinnen die Nachbarn. Kaum ist das orangefarbene Auto um die Ecke, hat sich die erste Matratze schon wieder breit gemacht. Manchmal teilt sie sich den Platz mit alten Klamotten, die nette Menschen aus dem Kleidercontainer heraus gezerrt haben. Als interessierte Zeitgenossen möchten sie herausfinden, ob noch etwas Brauchbares darunter ist. Um den nächsten Neugierigen die Suche zu erleichtern, verteilen sie den von ihnen verschmähten Rest gern großräumig auf dem Boden. Das ist sowohl rücksichtsvoll als auch nachhaltig gedacht – man muss ja nicht alles gleich wegwerfen.

Bäume und Büsche gibt es in unserem Viertel natürlich auch. Die Bäume sind wichtig für die Hunde, das wissen wir. Und weil ihre Halter so gewissenhaft sind, sammeln sie sogar die Häufchen ein, versenken sie in einem Plastikbeutel, den sie wiederum in die nächste Hecke stopfen. Die eignet sich auch bestens als Ablage für Zigarettenschachteln, Pappbecher und Pizzakartons: Man will den Abfall ja nicht einfach auf die Straße schmeißen. 

Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser, die Sie in fernen, feinen Vierteln wohnen, wie bei uns das Leben bunt und vielfältig ist. Und so herrlich frei. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man sich unabhängig gemacht hat von grauen, blauen und gelben Tonnen im Hinterhof, die regelmäßig geleert werden. Von Wertstoffhöfen ganz zu schweigen. Nur Spießer nehmen das in Anspruch. Und übrigens, tierlieb sind wir auch. Wenn hin und wieder eine nette Ratte durch den Müll huscht, bemerken wir es mit Freude. Unser Stadtteil lebt.

Text: Brigitte Lemberger
Cartoon: Sebastian Haug

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