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Das große Tabu: Gewalt in der Pflege

Es ist ein Skandal, den kaum jemand wahrzunehmen scheint: Gewalt an älteren Menschen. Was sich hinter den Mauern von Pflegeeinrichtungen aber auch bei der häuslichen Pflege mitunter abspielt, lässt sich kaum in Worte fassen. Da werden - zumeist hilflose - Alte gequält, gedemütigt, misshandelt oder vernachlässigt– oft mit tödlichen Folgen. Das Kuratorium Deutsche Altenhilfe (KDA) schlägt nun Alarm und fordert Maßnahmen, um Senioren besser vor Übergriffen zu schützen. Denn es handelt sich nicht um Einzelfälle: Vier Millionen Betroffene sollen es europaweit sein. weiterlesen

Einen Pflegebedürftigen in seinem Bett einfach zu fixieren, ohne dass eine medizinische Notwendigkeit besteht, ist eine Form des gewaltsamen Übergriffs auf alte Menschen. Foto: epd
Es ist ein Skandal, den kaum jemand wahrzunehmen scheint: Gewalt an älteren Menschen. Was sich hinter den Mauern von Pflegeeinrichtungen, aber auch bei der häuslichen Pflege mitunter abspielt, lässt sich kaum in Worte fassen. Da werden – zumeist hilflose – Alte gequält, gedemütigt, misshandelt oder vernachlässigt– oft mit tödlichen Folgen. Das Kuratorium Deutsche Altenhilfe (KDA) schlägt nun Alarm und fordert Maßnahmen, um Senioren besser vor Übergriffen zu schützen. Denn es handelt sich nicht um Einzelfälle: Vier Millionen Betroffene sollen es europaweit sein.
„Die Ausmaße der Gewalt in der Pflege werden von unserer Gesellschaft ignoriert und tabuisiert“, sagt der Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), Dr. Peter Michell-Auli. Vier Millionen ältere Menschen werden allein in Europa misshandelt. Das geht aus einem aktuellen Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO hervor. Etwa 2500 Opfer sterben an den Folgen der Misshandlungen. Das KDA informiert in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins ProAlter über Gewalt in der Pflege.
Rund 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden im häuslich-familiären Umfeld versorgt. Angehörige schlittern oft unvorbereitet oder unfreiwillig in eine Pflegesituation hinein. Viele Familien leiden zusätzlich unter ungelösten familiären Konflikten, Doppelbelastungen durch Beruf und Pflege oder externe Faktoren wie Schulden. „Dies kann zu verzweifelten Reaktionen und Überlastungserscheinungen in Form von Gewalt und Misshandlungen führen“, erklärt Christine Sowinski, Leiterin des Bereichs Beratung von Einrichtungen und Diensten im KDA.
Nur ein Bruchteil der Misshandlungen kommt überhaupt ans Licht. „Die Gewalt findet hinter verschlossenen Türen statt und wird häufig vom Umfeld gedeckt“, sagt Sowinski. Es ist davon auszugehen, dass deutlich mehr als die von der WHO genannten vier Millionen älteren Menschen in Europa unter Misshandlungen leiden. „Fest steht, dass die Gefahr für Übergriffe auch mit der Komplexität der Ausgangssituation, der Dauer der Pflegebedürftigkeit und dem Grad der Hilflosigkeit der Pflegebedürftigen steigt“, erklärt Sowinski. Das Gewaltpotenzial könne nur gemindert werden, wenn über Gewalt in der Pflege auch gesprochen würde. Jedes Eingreifen, jede erfolgreiche Beratung und jedes Entlastungsangebot habe unmittelbare positive Folgen für von Gewalt betroffene Menschen. „Es ist höchste Zeit, effektive Präventions- und Deeskalationsstrategien zu entwickeln und diese konsequent umzusetzen“, sagt Michell-Auli.
Dabei handelt es sich beim Thema Gewalt in der Pflege nicht einmal um ein neues Phänomen. Bereits Ende der 90-er Jahre hatten sich der Sozialverband Reichsbund (RB), das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), der Deutsche Berufsverband für Altenpflege (DBVA), die Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter „Handeln statt Misshandeln“ (HsM) sowie der Münchener Arbeitskreis gegen Menschenrechtsverletzungen zu einer „Aktion gegen Gwalt in der Pflege“ zusammengeschlossen. Schon damals trug die Aktion „aktenfüllende Vorgänge“ zu gravierenden Pflegefehlern, Vernachlässigungen, Misshandlungen und offener Gewalt in Einrichtungen der Altenhilfe zusammen. So bekämen Heimbewohner nicht genügend zu essen oder trinken, sie verwahrlosten aus Mangel an Zuwendung, sie würden durch mechanische Vorrichtungen fixiert oder mit Medikamenten ruhig gestellt (sogenannte „pharmakologische“ Fixierungen) und somit ihrer Freiheit beraubt.
„Grausame Verstöße gegen die Menschenwürde“
„Die uns vorliegenden und beschriebenen Fälle beinhalten zum Teil grausame und ungeheuerliche Verstöße gegen die Menschenwürde und die körperliche und seelische Integrität pflegebedürftiger Menschen“, sagte die damalige Vizepräsidentin des Sozialverbandes Reichsbund Ina Stein seinerzeit. Die Vielzahl der bekannt gewordenen Mißstände habe bei der AGP zu der Erkenntnis geführt – so Ina Stein – „dass es sich dabei um ein bundesweit flächendeckendes Problem handelt und nicht nur um einige wenige Einzelfälle von Gewalt in der Pflege“.
Die Aktion wollte aber weder Alten-Einrichtungen noch Pflegekräfte pauschal angreifen, betonte Stein. Denn viele Pflegekräfte würden ihren Beruf unter hohem persönlichem Einsatz ausüben und zahlreiche Alten-Einrichtungen eine qualitativ hochwertige Pflege anbieten. Die AGP will sich deshalb gemeinsam mit ihnen für eine größere Anerkennung der Pflegetätigkeit in der Öffentlichkeit einsetzen.
Vor allem durch mehr Fachkräfte, mehr Professionalität und regelmäßige Weiterbildung des Pflegepersonals könne die Wahrscheinlichkeit des Auftretens gefährlicher Pflegesituationen entscheidend gesenkt werden, erläuterte der damalige Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Altershilfe Klaus Großjohann.

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