Hello All, ich liebe den Fensterplatz im Flugzeug. Er bietet trotz aller Enge bei Flugreisen so etwas wie Miniprivatheit. Ohne die Drängeleien seitens des Gangs. Meine zweite Hälfte des Himmels weiß diese Vorzüge besonders zu schätzen. Doch bei guter Sicht wechseln wir stundenweise und sie überlässt mir den Ausguck. Sobald die Wolkendecke aufreißt und Tageslicht die Landschaft darunter freigibt, folge ich Küsten, Flüssen, Bergen, Siedlungen; prüfe meine Geographiekenntnisse- meist mit wenig Erfolg. An diesem Tag sollte der Blick nach dem Start spektakulär werden, über die Inselwelt Indonesiens bei sonnenklarem Himmel. Wir hatten uns vor dem Start in unseren Sitzen eingerichtet, da kam die Frage vom Gangplatz rechts. Sprechen Sie Englisch? wollte eine ältere Dame wissen. Wir bejahten. Sie wandte sich nun über meine Frau hinweg an mich, am Fensterplatz. Lieben Sie Ihre Heimat? Ich sah keinen Anlass zu einer diesbezüglichen Diskussion in aller Öffentlichkeit; brummte sowas wie, ja doch. Ein Mensch ohne Heimat sei nur ein halber Mensch, nicht wahr; jeder müsse wissen, wo sein Ursprung läge. Aha. Wenn man alt und krank wird, so ist die Bindung an die Heimat eine so wichtige Stütze in der schweren Zeit, folgte die Predigt vom Gangplatz aus. Sie wisse, wovon sie spreche, sagte die Dame nun mit zitternder Stimme. Seit Fünfzig Jahren lebe Sie im fernen Europa, doch dann kam diese furchtbare Nachricht von ihrer Erkrankung. Die Familie habe sie gebeten, noch einmal zurückzukehren auf ihre Insel nach Sulawesi; ein letztes Mal, welch‘ innere Kraft habe es ihr gegeben!
„Bitte die Sitze vor dem Start senkrecht stellen“. Die Ärzte in Europa haben ihr wenig Hoffnung gelassen, dass sie später noch einmal diese beschwerliche Flugreise in die alte Heimat werde unternehmen können. Jetzt heißt es, Abschied nehmen. „Bitte anschnallen.“ Wir werden beim Start über ihre kleine Stadt hinweg fliegen, und dann über die ihr vertrauten Inseln – ach, wie gerne würde sie ihrer nun für immer verlorenen Heimat einen letzten Blick schenken!
Meine Frau stupste mich an; wir sind ja weder aus Stein noch völlig blöd. Eine Flugbegleiterin stand neben der alten Dame am Gangplatz: Madam, Sie müssen sich nun anschnallen. Ja, sofort, der Herr am Fensterplatz habe ihr soeben einen Platztausch angeboten. Wie bitte? Was hatte ich? Nein, ich hätte fast gewollt; aber von mir ausgehend, nicht so genötigt. Die Flugbegleiterin sah mich auffordernd an; bitte machen sie schnell, wir sind startbereit. Zwei gegen einen, Widerstand zwecklos. Meine Frau und ich standen auf, ließen die Klagende auf den Fensterplatz und richteten uns neu ein. Nun war die Dame verstummt; gut so. Während die Maschine zur Startbahn rumpelte, reckte ich den Hals zum Fenster, ob ich außer der Flügelkante noch etwas sehen könnte; die Kamera schussbereit.
Die Dame blies ein mächtiges Nackenkissen auf, lehnte sich damit ans Fenster – Blick versperrt. Die Maschine nahm Fahrt auf. Die Dame am Fenster hatte sich inzwischen eine Schlafmaske über die Augen gelegt und kuschelte sich in das monströse Nackenkissen. Der Flieger hob ab, schwenkte nach links: „Zur Linken haben Sie heute einen einmaligen Blick auf Sulawesis Küstenlinie“ kam die Durchsage. Zur Linken starrte ich auf die schlummernde Fensterdame. Nein, sie tat nur so. Denn kaum, dass wir Höhe gewonnen hatten, regte sie sich nochmals, schloss die Sichtblende am Fenster, kramte Kopfhörer aus der Handtasche, und begab sich nun vom Sonnenlicht unbehelligt vollends in den Tagschlaf. Ohne dem Fenster, ihrer ach so geliebten Heimat darunter auch nur je einen einzigen Blick gewürdigt zu haben. Zumindest hielt sie nun den Mund – und ich die überflüssige Kamera. Meine zweite Hälfte des Himmels schupste mich nochmals: nein wir sind nicht aus Stein, aber völlig blöd, gel?
Wir werden nie, ich wiederhole: nie wieder einem alten Menschen, der im Flieger um den Fensterplatz noch so erbarmenswert winselt, diesem Wunsch nachkommen. Denn für Alte und Hilfsbedürftige ist der Gangplatz wesentlich besser geeignet. So viel Respekt vor dem Alter muss sein.
Ihr Global Oldie
