Hello All,
Weihnachten naht mit Kerzen, Lebkuchen und drohenden Familienkonflikten. Die empirische Sozialforschung konstatiert: in Zweidrittel aller Familien grummelt und knallt es um die Festtage. * Je ein Drittel berichtet von Zoff mit Eltern oder Partner, etwas seltener mit Kindern. Eine so betrübliche wie interkulturell übliche Regelmäßigkeit. Familienfeste im größeren Kreise brüten offensichtlich nicht nur berauschend schöne Stunden aus, sondern auch explosive Stimmungen. Was den Europäern Weihnachten beschert, kommt ähnlich auf chinesische Familien zum Neujahresfest oder Amerikaner zu Thanksgiving- Familienfeiern zu. Die Menschen wünschen sich weltweit ein „ein friedliches Fest“, in wohlwissender Sorge um hausgemachte Erfahrungen der unerquicklichen Art, unabhängig vom großen Weltgeschehen.
Zeit für uns Alte, uns Erkenntnisse aus der sozio-emotionalen Selektivitätstheorie (SST)** zur Brust zu nehmen, um uns aus der Gefahrenzone zu manövrieren. Tapfer verkürzt besagt diese Theorie unter anderem, dass Senioren soziale Kontakte und Situationen danach selektieren, inwieweit sie diese emotional belohnen. Laut empirischer Forschung sind das nicht zwangsläufig Treffen mit der Verwandtschaft. Mit zunehmenden Alter stiften Zusammenkünfte mit langjährigen engen Freunden mehr Wohlbehagen als die eigene Sippe.
Das Vertrackte an diesem Teilbefund der SST ist, dass er damit herzlos an Tabus rüttelt. Traditionell soll das Familienumfeld das notwendige Maß an positiven Emotionen spenden. Doch klaffen soziales Wunschdenken und kollektive Wirklichkeit weit auseinander. Wie wir alle wissen. Mehrere Berufsstände leben von der Unzulänglichkeit der Familien als primäre Wohlfühlquelle. Ehe- und Erziehungsberater, Sozialarbeiter, Barkeeper, Pharmafirmen, Spirituosenhersteller, Entziehungseinrichtungen, Psychologen, Psychiater, Polizisten, Anwälte, Ämter und Familienrichter. Ohne Familienkonflikte hätten weder Buchverlage noch gelbe Presse, geschweige denn Hollywood, Netflix und Fernsehproduktionen genügend Stoff, um ihr Publikum zu bedienen.
Verwandtschaft wird eher als Schicksal empfunden, das es mal besser, mal schlechter mit einem meint. Innerhalb einer Familie emotional befriedigende Kontakte zu hegen, bleibt lebenslang ein anspruchsvolles Unterfangen, das Kompromissbereitschaft, Disziplin und Vergebung verlangt. Die Familie ist zwar der beständigste Kern der Karawane, die uns ein Leben lang begleitet; sie ist uns vertraut und bietet damit eine gewisse emotionale Sicherheit. Doch genügend Glücksgefühle daraus sind eher ein Bonus.
Bekannte und Freunde machen den weiteren Teil der Karawane aus. Den engeren Freundeskreis kann man selbstbestimmt aufbauen, selektieren und pflegen. Man schöpft über lange Zeit aus weiten Kreisen, wie Mitschüler, Kollegen, Geschäftspartner, Vereinsmitgliedern und Zufallsbekanntschaften. In den ersten Lebensjahrzehnten kommt der Menge und dem Prestige der Kontakte ein größere Bedeutung zu. Wie es Anzahl und Ansehen der Beiträge im Poesiealbum, Einladungen, Anrufe und Gästeliste ausdrücken. In reiferen Jahren werden Menge und Nützlichkeit der sozialen Kontakte unwichtiger zugunsten des Wohlfühlfaktors: Mit wem, bei welchen Gelegenheiten geht es einem zuverlässig gut? Tatsächlich sind unter alten Freunden seelische Grausamkeit, Vernachlässigung und Totschlag selten. Denn wen man nicht mehr mag, dem geht man einfach aus dem Weg.
Der SST -Theorie folgend, sollte man als Senior Familienfeiern nicht mit emotionalen Erwartungen überfrachten. Sie sind eine wichtige Übung zum Erhalt des Familiengefüges und Eindrücke voneinander. Mit Glück wird’s schön für viele, die da zusammenkommen. Aber selbstverständlich ist das nicht. Dafür hat man Freunde. Hoffentlich!
Euer Global Oldie
* Statista Research Dept. basierend auf YouGov Umfrage; 18. 10. 2023
**Socioemotional Selective Theory, SST, Publikationen dazu von Laura Carstensen, Professorin an der Stanford University und Kollegen.