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Langsam gehen, Bürde oder Würde?

Hello All,

vor 10 Jahren schrieb ich an dieser Stelle launig über Go-Go, Slow-Go und No-Go als drei Mobilitätsphasen im Alter*, aus US- amerikanischer Perspektive. Ich selbst bewegte mich damals noch im gefühlten Turbo- Go-Go Stadium. Heute zerren mich verschiedene Zipperlein mit vereinten Kräften in die Slow-Go-Phase. Nur vorübergehend, säuselt eine innere Stimme. Eine andere innere Stimme spöttelt: und worauf deuten Indizien hin wie Walking-Stöcke in der Schuhgarderobe, Spaziergänge in Straßenschuhen anstatt Wanderungen mit festem Schuhwerk und Rucksack, die von der Fitnessuhr dokumentierten von Quartal zu Quartal kürzeren Gehstrecken pro Tag, das verminderte Gehtempo im Vergleich zu anderen, die Schmerzmittelblister in den Jackentaschen und der schwankende Gang?

Bitter: Gangstörungen gelten in der Geriatrie als ein vielsagendes Leitsymptom. Demnach zeigen 85% der 60-Jährigen ein normales Gangbild, ohne asymmetrisches Humpeln und Hinken. Unter den 70-Jährigen gehen noch 65% normal, bei den 85-Jährigen nur noch 20%.  Ich finde mich unter jenen 35% , die altersgemäß unnormal gehen. Und es fühlt sich auch so an. Noch unangenehmer als akute Beschwerden beim Gehen ist das Wissen darüber im Hintergrund. Langsame Geher seien biologisch fünf Jahre älter als ihr kalendarisches Alter. Alte Schleicher tragen zudem ein statistisch nachgewiesenes höheres Demenzrisiko und niedrigeren IQ**. Als auffällig langsam gilt für 70-Jährige eine Wegstrecke unter 3,8 Km/ Stunde.  Erst ab einem Gehtempo von 4,8 Km sei man als ca. Siebziger auf der sicheren Seite; als flott gilt in dieser Liga, wer 5,4 Km/h schafft. Kann man dem Verfall im Alter davonlaufen?  Langzeitstudien besagen, dass man schon als junger Mensch flinker als die anderen unterwegs gewesen sein muss, um sich im Alter biologisch auf jünger zu tunen. Da ist er wieder, der Leistungsdruck aus dem früheren Leben.

Zum Glück gibt’s kluge Leute wie den britischen Statistiker Georg Box. Der fasste 1976 seine Beobachtungen zu wissenschaftlichen Studien wie folgt zusammen. „Alle statistischen Modelle sind falsch. Aber einige sind recht nützlich“.  Recht hat der Mann. Mir gefällt jene Meta-Analyse*** von 15 empirischen Studien aus den Jahren 1999-2018, die zum Schluss kommt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung primär mit der täglichen Schrittzahl positiv korreliert: bei den U60-zigern braucht es 8000 – 10.000 Schritte pro Tag, bei den Ü70-zigern weisen schon mehr als 6000 Schritte täglich in Richtung längeres Leben. Und das unabhängig von der Gehgeschwindigkeit. Demnach sind Ausdauer und Regelmäßigkeit der körperlichen Bewegung ausschlaggebend. Wer nicht gerne geht, kann sich seine Überlebenschancen auch mit ausdauerndem Tanzen, Radeln, Schwimmen oder Tai-Chi upgraden.  Ein Hurra auf den redlichen Wettstreit der Theorien und Modelle in der Wissenschaft!

Bleibt die Frage, ob das biologische Alter, Demenzrisiko und Lebenserwartung die relevantesten Kriterien für eine erstrebenswerte Gehgeschwindigkeit sind.  Im Hinblick auf aktuelle Lebensqualität könnte ich das langsame Gehen auch umdeuten in ein genüssliches Schlendern: Ich bummle absichtlich. Das ist mein Gegenentwurf zum Hetzen der Gestressten, die mit Blick auf Handy und Termine über die Gehwege eilen. Ich hingegen, als abgeklärter Senior, mutiere zum Entschleuniger. Bitte versteht meine Langsamkeit als Hommage ans Flanieren der Intellektuellen und sozial Privilegierten verflossener Tage. Bedenkt, wem es pressiert, outet sich als arme Socke.

Chinesen geben sich beim Abschied oft ein „màn màn qù“ (geh langsam) mit auf den Weg. Das ist gut gemeint, im Sinne von Vorsicht walten lassen, aber auch Gesicht wahren.  Denn Respektspersonen, und solche stellen wir im Alter dar, eilen nicht, sondern schreiten würdevoll.  Vermutlich unter 3,8 Km/h,  und bisweilen mit einem wunderschönen Stock an der Hand, der nicht von Ganginstabilität sondern Status und Stilbewusstsein zeugt. Na, geht doch, das mit dem langsam Gehen.

Euer Global Oldie

*Blog mit Titel “Go-Go, Slow-Go-, No-Go” vom 12. Mai 2012

** Rasmussen, Caspa, Ambler :”Association of Neurocognitive and Physical Function with Gait Speed in Midlife” , JAMA Netw. Open, 2019, 2 (10)

*** Paluch et al. “Daily Steps and All-Cause Mortality” , The Lancet, Public Health Vol. 7, Issue 3, E 219- E 228, March 1st 2022

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