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Demenzkranke mögen kräftige Farben

Manfred Müller war Lehrer für Physik, Mathematik und Informatik, ein Mann mit analytischem Verstand, aber auch mit musischen Interessen. Dann erkrankte er an Demenz – mit erst 59 Jahren. Sie raubte ihm schleichend die Erinnerung. Sein großes fachliches Wissen wurde ebenso verschüttet wie viele persönliche Erinnerungen. Geblieben ist aber auch zwölf Jahre nach der Diagnose die Freude an der künstlerischen Betätigung.

Vor kurzem hat er in Begleitung seiner Frau Helga an einem Kunst-Workshop im Heilig-Geist-Haus in Nürnberg teilgenommen. Dieser wurde vom Curatorium »Altern gestalten« in Kooperation mit dem Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ) angeboten und vom Bayerischen Demenzfonds gefördert. Das Pionierprojekt #Pflegekunst bringt pflegende Angehörige und Menschen mit Demenz zusammen, damit sie unter der Anleitung von Künstlerinnen ihre kreative Seite ausleben können.

Wegen seiner Beeinträchtigung kann sich Manfred Müller zwar nicht mehr sprachlich artikulieren, seine Frau aber hat »an seiner Gestik und an seinem ganzen Verhalten« ablesen können, dass er »viel Freude an der Aktion hatte«. Wenn ihm etwas keinen Spaß mache, sitze er unbeteiligt da und spiele mit den Fingern, erzählt sie. Ganz anders beim Kunstprojekt. Hier war er intensiv bei der Sache. Von der beteiligten Künstlerin habe er sich gut motivieren lassen. Helga Müller ist überzeugt: »Solche Anstöße sind wichtig, damit er nicht in seiner Welt versinkt.«

Ungwöhnliche Perspektive

Auch sie selbst war sehr angetan. »Es ist unglaublich, wie kreativ Menschen noch sein können, wenn sie an Demenz leiden!« Aufgefallen ist ihr besonders die teils expressive Farbgestaltung der Werke – und dass manche Betroffene eine ungewöhnliche Perspektive eingenommen haben, zum Beispiel indem sie ihre Motive auf den Kopf gestellt haben. Bei ihrem Mann, der einst viel und gerne gezeichnet hat, seien die Bilder anders als früher »sehr abstrakt ausgefallen«, sie spiegeln aber die Begeisterung am künstlerischen Schaffen wider.

Museumspädagogin Sylvie Ludwig betreut die Workshops im Heilig-Geist-Haus Nürnberg. Foto: Michael Matejka

Kunst habe die wunderbare Fähigkeit, Menschen mit Demenz zu inspirieren und ihre Lebensqualität zu steigern, sagt Projektleiterin Sabine Distler vom Curatorium Altern gestalten. Über das Gestalten können Gefühle und innere Bilder ausgedrückt werden. »Wir leben heute immer länger.« Das sei eine gute Entwicklung, sie bringe jedoch neue Herausforderungen mit sich. »Deshalb braucht es neue Angebote für die lang Lebenden.«

Begegnung auf Augenhöhe

Die Aktion #Pflegekunst versteht sie als Inklusionsprojekt, mit dem man Angehörige und die Erkrankten erreicht – und bei dem sich alle auf Augenhöhe begegnen. Es soll Menschen einen Raum geben, denen es zunehmend schwerer fällt, sich auszudrücken. Jeder habe eine Stimme, die gehört werden sollte – unabhängig von den Herausforderungen, mit denen er konfrontiert ist, betont Sabine Distler.

Innovativ an der Aktion ist, dass eine Künstlerin die Workshops begleitet und sich ganz auf die Zielgruppe einstellt. Beim ersten Durchgang im vergangenen Herbst, bei dem auch Helga und Manfred Müller dabei waren, hat das Konzept laut der Projektleiterin sehr gut funktioniert, das Angebot fand viel Anklang. Mit der Künstlerin Lana Novikova haben mehrere »Tandems« aus Tochter und Mutter, Nachbarin und Nachbar und Eheleute mit Stempeltechnik und Wasserfarben experimentiert. Bei den aktuellen Workshops im Heilig-Geist-Haus, diesmal betreut von der Künstlerin und Museumspädagogin Sylvie Ludwig, geht es um textiles Gestalten. Die Arbeiten aus allen Workshops werden am Ende zu einer Kunstausstellung zusammengefügt und im Germanischen Nationalmuseum präsentiert. Die Vernissage findet am Mittwoch, 20. März, ab 16 Uhr bei den Ausstellungsflächen des KPZ statt. Sie bildet den Auftakt zu den Kunstaktionswochen für Ältere mit dem Titel »Stark durch Kunst«, die in Zusammenarbeit von KPZ, Curatorium Altern gestalten und dem Duerer-Team des Klinikums Nürnberg (letzteres erforscht die Auswirkungen von Kunsttherapie auf ältere Menschen) organisiert werden.

Vom 20. März bis 30. April finden unterschiedliche Veranstaltungen rund um das Thema statt. Geplant sind unter anderem Vorträge, »Zeitzeugen«-Gespräche, Kurzführungen durch die Ausstellung, Mitmachaktionen und demenzsensible Veranstaltungen im Germanischen Nationalmuseum.

Bei der Vernissage und einigen weiteren Veranstaltungen werden auch Manfred und Helga Müller dabei sein. Die 71-Jährige nimmt ihren gleichaltrigen Mann immer überall mit hin, besucht mit ihm Ausstellungen und Konzerte – schließlich hat er früher selbst in einer Jazz-Band gespielt. »Wir sind dann Hand in Hand unterwegs, wie ein frisch verliebtes Paar. Mir gefällt das und ihm auch«, betont Helga Müller, die dem nicht immer leichten Alltag mit Gelassenheit und Humor begegnet. »Durch die Demenz ist vieles anders geworden, aber wir können noch zusammen sein und einiges zusammen unternehmen. Und das ist es, was zählt.«

Text: Alexandra Voigt/Fotos: Michael Matejka

Information

Sobald das Programm für die Kunstaktionswochen fertig ist, kann man es auf der Homepage des KPZ (www.kpz-nuernberg.de) und des Curatoriums Altern Gestalten (www.alterngestalten.de) einsehen. Im Sommer sind zudem weitere Workshops geplant, die Termine stehen aber noch nicht fest.

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