Die Bilder vom Ukraine-Krieg, von den zerschossenen Gebäuden, den Leichen am Straßenrand und den in Bunkern ausharrenden Zivilisten lassen niemanden unberührt. Eine besondere Wirkung haben diese Bilder und Berichte aber auf die Gruppe der Kriegskinder, also diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder noch selbst miterlebt haben. Für sie ist von einem Tag auf den anderen wieder sehr präsent, was längst bewältigt schien. In ihren Köpfen vermischen sich die Trümmer von damals mit denen von heute. Das Schreien und Weinen, aber auch die Ohnmacht und Hilflosigkeit von damals sind wieder spürbar.
Hinzu kommt: Der Kriegsschauplatz von heute, die Ukraine, war auch Kriegsschauplatz im Zweiten Weltkrieg. Ortsnamen, die man mit Kriegserzählungen der Eltern und Großeltern verband, sind wieder in den aktuellen Nachrichten zu hören. Die Bedrohung heute kommt aus dem Osten. 1945 waren die russischen Truppen gefürchtet, denn die von Deutschen im Osten verübten Kriegsverbrechen konnten keine Gnade vor Recht zulassen. Aber auch die Generation der Kriegsenkel (1960-1975) ist betroffen. Viele von ihnen sind mit Leitsätzen aufgewachsen, wie dem, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren könne. Und jetzt passiert etwas ganz Schlimmes – und zwar vor der Haustür.
Wie damals im Bunker
Hanne Augustin (81) aus Cadolzburg erzählt, dass sie bei Beginn des Krieges gegen die Ukraine plötzlich Angst und Kälte spürte, die sie schon 1945 bei Kriegsende als Kleinkind mit ihrer Mutter im damaligen Bunker in Thalmässing erlebt hatte. »Alte Bilder stiegen wieder hoch, und ich konnte nachts kaum schlafen. Meiner fünf Jahre älteren Cousine ging es genau so. Erst nach acht Tagen wurde es langsam besser, ich konnte das Grauen langsam vergessen und wieder einen normalen Alltag leben«, schildert die 81-Jährige. Nachrichtensendungen schaue sie sich nur noch spärlich an.
In Heidrun Schuster (78) steigt die Erinnerung an die Vertreibung aus dem Sudetenland hoch. Innerhalb weniger Stunden musste sie als Kleinkind mit ihrer Mutter sowie zwei Tanten und deren Kindern flüchten. »Die schrecklichen Bilder, ausgelöst durch die neue Flüchtlingswelle, wirken heute noch in mir nach.« Sybille Hoffmann (91) weint öfter, weil täglich Menschen sterben, »weit weg von mir in der Ukraine«. Ein 79-Jähriger, der das Kriegsende als Dreijähriger erlebte, berichtet von seinen Träumen: Schon zweimal schien es ihm im Schlaf, dass er in den Krieg ziehen müsse.
Angst beim Klang der Sirenen
In manchem Pflegeheim wird in der Hauskapelle wieder gebetet: »Danke, dass ich leben darf.« Eine Sozialpädagogin aus Fürth erzählt, bei Geburtstagsfeiern von 80- und 90-Jährigen werde jetzt öfter über die Frage diskutiert, »ob der Dritte Weltkrieg kommt«. Und im Münchner Umland haben zwölf Kommunen einige Wochen lang die Katastrophenschutzübung wegen der Sirenen ausgesetzt. Denn manchen Älteren geht der Klang der Sirenen durch Mark und Bein.
In den letzten Wochen haben in Berlin und anderen Großstädten Deutschlands viele Menschen gegen den Ukraine-Krieg demonstriert. Da geht es vor allem um Solidarität mit den Menschen dort. Bei manchen geht es aber auch um eigene Ängste und Traumata, die hochkommen und verunsichern. Das Magazin sechs+sechzig sprach mit der Nürnberger Psychotherapeutin Ortrun Griebel über Kriegsängste, Erinnerungen und seelische Narben.
sechs+sechzig: Psychologen, Ärztinnen, Seelsorger und Pflegerinnen berichten, dass vor allem bei Menschen, die den Krieg als Kinder selbst miterlebt haben, Erinnerungen ausgelöst werden. Bilder über zerstörte Häuser, Frauen mit Kindern, Leichen am Straßenrand wecken Ängste, Unsicherheiten und Depressionen. Können Sie das bestätigen?
Ortrun Griebel: Sicher tauchen jetzt verstärkt Kriegsszenen in Träumen auf. Die Bilder und Berichte über den Ukraine-Krieg hinterlassen bei vielen so tiefe Spuren, dass sie kaum noch Nachrichten schauen. Drastisch ist für mich die Aussage eines 80-jährigen Klienten: »Sollte der Krieg nach Deutschland kommen, wäre ich lieber tot.« Zudem erschütterten Erlebnisse der Corona-Jahre die Menschen. Lieferengpässe, die die Versorgungssicherheit gefährden, und die schwindende Stabilität der Welt verunsichern zusätzlich. Mögliche Folgen sind Hamsterkäufe, das Sich-Zurückziehen bis zur Depression, übergroßes Misstrauen sowie latente oder offene Aggression gegen Pflegende. Eigene Ängste werden auf die Angst um die Jugend projiziert. Ein Enkelkind, das unter Schulangst leidet, an Magersucht, Depression – das alles sind gute Gründe, sich Sorgen zu machen und nicht an sich selbst zu denken. Das war schon damals im Krieg eine gute Überlebensstrategie. Oder die Flüchtenden aus der Ukraine – die so anders gesehen werden wie Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten, selbst wenn dort auch russische Truppen beteiligt sind. Mit ukrainischem Leid kann man sich leicht identifizieren und dadurch den eigenen Schmerz ignorieren.
Führt das dazu, dass Betroffene sich mehr austauschen oder in eine Therapie einsteigen?
Leider kann ich dazu wenig sagen, aber soviel ist klar: In Bezug auf Therapie im Alter gibt es viele Hürden aus verschiedenen Gründen. Die Kriegskinder sind nicht groß geworden in einer Welt, in der Psychotherapie denkbar war als Unterstützung. Zudem ist das liebevolle Kümmern um sich selbst keine große Stärke dieser Generation. Davon abgesehen, dass es keine freien Therapieplätze gibt – nur mit langer Wartezeit. Es bräuchte also Hilfe vom Pflegepersonal oder von Angehörigen, denn ohne Internet wird eine erfolgreiche Suche nach Therapeuten fast unmöglich.
Rohe Gewalt nach dem langen Frieden
Hat also die junge Generation jetzt Vorteile, weil sie keine alten Ängste hat?
Was für jüngere Menschen ein größerer Schock sein dürfte als für Ältere ist die Tatsache, dass nach langer Friedenszeit wieder rohe Gewalt in Europa angewandt wird – denn genau das ist der Krieg. Die 80- bis 90-Jährigen sind mit Kriegspropaganda und verherrlichtem Soldatenleben groß geworden. Doch für die junge Generation war das Erziehungsziel in Schule und Elternhaus, sich mit Problemen statt mit brutaler Aggression auseinanderzusetzen.
Wie erleben also beispielsweise die Generation Z (16-25 Jahre) oder die Baby Boomer (56 plus) den Krieg in Europa?
Erfahrungen aus der Pandemie-Zeit spielen dabei eine wichtige Rolle. Laut einer Umfrage des Instituts für Generationenforschung zum »Krieg in Europa« wollen viele Jugendliche ihre wiedergewonnene Freiheit ausleben, allerdings reagieren nicht alle mit der gleichen Veränderungs-Geschwindigkeit. Ein nicht unerheblicher Teil leidet infolge der Corona-Einschränkungen am »Cave-Syndrom«: Sie sind nach monatelangem Lockdown mit dem sozialen Miteinander überfordert und bleiben lieber in ihrer sicheren Höhle, anstatt ihr Sozialleben wieder wahrzunehmen. Nach Ansicht des Diplom-Psychologen Rüdiger Maas ein Phänomen, das uns noch lange begleiten wird, eine von vielen psychischen Störungen der Corona-Pandemie. Die Statistik zeigt weiter: Für die Generation Z war der Ukraine-Konflikt schon vor Kriegsbeginn zu 78 Prozent als bedrohlich erlebt worden und steigerte sich auch nicht, während sich die Bedrohungen für die Baby Boomer von 56 auf 71 Prozent erhöhte.
Über die Spuren, die der Zweite Weltkrieg in Gesellschaft und Familien hinterlassen hat, gibt es mehr als 400 Veröffentlichungen. Erleben wird bald eine neue Bücherwelle?
Wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist, werden wohl viele neue Werke entstehen, die die Narrative der Kriegserfahrungen erzählen und neu verflechten. Und später rückblickend, weil sich die nächsten Generationen von Kriegskindern und Kriegsenkeln auf den Weg machen wird, um die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern besser zu verstehen. Denn bisher war zu erkennen: Eine gute Dosis Kriegserfahrungen gab es selten in den Familien. Meistens schwankte es zwischen Überforderung und dem großen Schweigen. Beides baut kein gutes Selbstwertgefühl und Vertrauen in eine verlässliche Welt auf.
Interview: Horst Otto Mayer
Fotos: privat; W. Gillitzer