Nach dem Tod des fränkischen Fotografen Konrad Birkmann kümmerte sich sein gleichnamiger Sohn um dessen Nachlass und erlebte dabei eine große Überraschung. Der Vater hatte sein Leben fein säuberlich in 150 Doppelmappen einer Hängeregistratur dokumentiert. Der Senior hatte akribisch Buch geführt und tausende Briefe, schriftliche Reflexionen, Gedichte, Texte, Vorträge und Fotos hinterlassen. »Mein Vater hat sein Leben ganz genau geordnet, so als hätte er etwas damit vor«, sagt Konrad Birkmann junior, »aber er hat nie mit mir darüber gesprochen. Ich wusste nichts davon.«
Weil es so extrem viele Unterlagen waren, landeten sie erst einmal auf dem Dachboden des Sohnes, der beim evangelischen Kirchengemeindeamt in Nürnberg beschäftigt ist. Doch der 63-Jährige sieht es als Vermächtnis, an seinen Vater zu erinnern, der von 1918 bis 1997 gelebt hat. Der Sohn hat begonnen, das Material sukzessive aufzuarbeiten. Nicht aus persönlicher Sentimentalität, sondern weil er die Schriften für etwas absolut Ungewöhnliches hält. Es sind die umfangreichen Notizen eines Mannes aus Franken, der aus ganz einfachen Verhältnissen stammte und der jede sich bietende Chance nutzte, sich mehr Wissen anzueignen und dadurch schwierige Phasen in seinem Leben zu bewältigen. Besonders interessant sind die Schriftstücke aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem Birkmann als Heeresmusiker, Funker und Krankenträger eingesetzt war – vor allem aber die Dokumente aus der Kriegsgefangenschaft 1944 bis 1949. »Für meinen Vater war das Schreiben wichtig, um nicht verrückt zu werden und um diese Zeit zu überleben«, berichtet der Sohn. Es sei für ihn ein entscheidendes Mittel gewesen, die furchtbare Entmenschlichung jener Jahre zu überstehen.
Kaum zu entziffern
Sein Vater war fünf Jahre lang in verschiedenen russischen Kriegsgefangenenlagern eingesperrt, zuletzt in Woronesch, 490 Kilometer südöstlich von Moskau. Er hielt den Alltag in winzigen Buchstaben auf Zetteln fest, die er sich aus den inneren Papierhüllen von Zementsäcken angefertigt hatte. Der Wehrmachtssoldat war beim Bau von Fabrikhallen eingesetzt. Die Schrift ist mit bloßem Auge kaum zu entziffern, doch die einzigartigen Zeitdokumente wurden bereits auf 130 Din-A-4-Seiten transkribiert. Sie sind ein erschütterndes, anrührendes Zeugnis aus verzweifelten Jahren.
Birkmann berichtet von mehreren Fluchtversuchen aus Kriegsgefangenenlagern. Einmal wagte er es mit einem Kameraden. Sie versteckten sich tagsüber und liefen nur nachts heimlich weiter Richtung Westen. Er erzählt von vielen Strapazen und Schwierigkeiten, und wie sie nach 300 Kilometern schließlich doch festgenommen und zurückgebracht wurden – ein absoluter Tiefpunkt. Zur Strafe kamen die Flüchtlinge für drei Monate in einem Bunker, ohne Bett, bei bis zu 30 Grad minus im Winter. Um nicht zu erfrieren, liefen sie stundenlang im Kreis und legten sich nur für wenige Minuten auf den eiskalten Boden, wenn sie vor Erschöpfung nicht mehr stehen konnten. Ihre Essensration wurde gekürzt: nur ein halber Schlag Suppe, nur eine halbe Brotration.
Lediglich auf dem Weg zur Toilette kamen sie für kurze Zeit aus dem Bunker heraus. Dabei konnten sie gelegentlich etwas für ihr Gefängnis besorgen, falls die begleitenden Wachen es erlaubten. So schrieb der Wehrmachtssoldat: »Die Latrinengänge sind die einzige Möglichkeit, um Erleichterung zu schaffen. Jedes Stück Holz, jeder Strohhalm, sogar eine kleine Blechtonne wandert in unsere Zelle. Die Blechtonne dient als Ofen. Aus der Latrine holen wir die Knochen, die die Küche hineinwirft, klopfen dieselben zu Mehl und kochen Suppe. Die Kartoffelschalen holen wir heraus, waschen sie ab und rösten sie auf dem Blechofen. Aber nicht alle Posten schauen weg, wenn wir organisieren.« Eine bedrückende Fotografie zeigt, wie stark die Jahre im Lager ihn optisch verändert haben. Mit 31 Jahren – kurz vor der Entlassung in die Heimat – sieht Birkmann wie ein alter, ausgezehrter Mann aus, gezeichnet von den Anstrengungen und Entbehrungen.
Er sagte Gedichte von Eichendorff und Rilke auf
Neben dem physischen Hunger versucht Birkmann, seinen geistigen Hunger zu stillen. So notiert er: »Eine parallellaufende Entwicklung über die gesamte Zeit der Gefangenschaft war mein Bemühen, durch Gespräche meinen Bildungsstand zu verbessern … Wenn mir ein Wissender begegnete, einer der mehr wusste als ich, auf welchem Gebiet auch immer, so versuchte ich, von ihm zu lernen. Der geistige Hunger war dem körperlichen gleichgeartet.« So finden sich auf einem Zettel die Stichworte »Goethe«, »Epikur« und »Theologie« mit langen Erläuterungen. Gedichte des romantischen Lyrikers Joseph von Eichendorff und von Rainer Maria Rilke sagt er im Bunker immer wieder für sich auf, ein mentales Überlebenstraining.
Birkmann, der schon früh Waise geworden war und nur sechs Jahre lang die Schule besuchte, hatte einen unstillbaren Bildungshunger. Aber die Möglichkeiten waren in seiner Kindheit und Jugend nicht gegeben. Neben seiner Bäckerlehre blieb kaum Zeit. Seine Vorfahren waren kleine Landwirte aus Dörfern am Moritzberg bei Nürnberg. Da seine Eltern früh verstarben, konnten sie seine Begabungen nicht mehr fördern. Der Vormund tat es auch nicht, wichtig war damals, möglichst rasch eine Lebensgrundlage, also eine Berufsausbildung, zu schaffen.
Vielleicht war dieser Mangel der Impuls, dass der junge Erwachsene immer wieder das Wissen anderer anzapfte. Ob technische Erfindungen, philosophische Themen oder kunsthistorische Epochen: Birkmann saugte alles wie ein Schwamm in sich auf. »Er muss hochbegabt gewesen sein, er konnte sich alles gut merken und wiedergeben«, meint sein Sohn. In den Notizen aus der Gefangenschaft hielt der damalige Soldat auch fest, dass er sich aus der Lagerbibliothek Bücher von Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin ausgeliehen hat. Er konfrontierte die politischen Kader dann mit seinen Eindrücken von der Wirklichkeit und den Widersprüchen des kommunistischen Alltags, was bei seinen Gesprächspartnern Zorn und Verärgerung hervorrief. Es gab negative Einträge in seine Akte.
Abendmahl mit Brotwürfeln
Dass er die fünfjährige Lagerhaft überstand, hängt auch mit Birkmanns persönlicher Sinnsuche zusammen. Er fand in dem Mitgefangenen Hermann Steinhoff einen Freund, der ihm viele theologische Fragen beantwortete. »Er wurde mir Lehrer und Bruder zugleich«, schrieb der Franke. Der christliche Glaube wurde zum festen Fundament seines Lebens. Gemeinsam organisierten die beiden Gottesdienste im Lager, bei denen sie das Abendmahl mit Tee statt Wein und Brotwürfeln statt Hostien feierten. Interessanterweise legte die russische Lagerleitung hiergegen ihr Veto ein, weil dadurch aus ihrer Sicht das Abendmahl verfälscht wurde. Doch das war für Konrad Birkmann nicht wichtig. Er schreibt später, zwei Jahre vor seinem Tod, im Rückblick: »Entscheidend war nur das Bekenntnis zu Jesus. Er war die Mitte, der, der uns alle vereinte (…) Alle hielten wir zusammen, alle trugen wir des andern Last. Und es gab so manche Not zu lindern und zu tragen (…) Ich war tieftraurig, dass ich eine solche Gemeinschaft nach meiner Heimkehr nie wieder gefunden habe.«
Sohn Konrad will sämtliche Unterlagen dem Nürnberger Stadtarchiv übergeben. Zunächst plant er jedoch eine Biographie »Überleben durch Bildung«. Das sieht er als unausgesprochenen Auftrag seines Vaters an. Außerdem will der IT-Fachmann eine Website einrichten, auf der alle handschriftlichen Texte hochgeladen werden. Und er hofft dabei auf eine Community, die ihn beim Transkribieren der Texte tatkräftig unterstützt. Später soll das daraus entstehende »Online-Archiv Konrad Birkmann« jedermann zugänglich sein.
Text: Hartmut Voigt
Fotos: Michael Matejka