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Alte Lügner, brave Lügner

aaa-vignette Hello All, Lügen gehört sich nicht; sozial geächtet, schwere Sünde, mitunter strafbar. Dabei weiß jeder alltagstaugliche Mensch zwischen Alaska und Kapverden, dass ein friedliches Zusammenleben nur funktioniert, wenn man mit der Wahrheit wohl dosiert umgeht. Je nach Situation, Gegenüber und höheren Zielen. Darf, ja muss man nicht ab und zu lügen, um Ängstlichen die Furcht zu nehmen, Verletzbaren eine schmerzhafte Kränkung zu ersparen oder gefährliche Konflikte zu entschärfen? Manche Anthropologen beschäftigen sich mit wissenschaftlichem Ernst, welche Kulturen besonders oft lügen. Neben den üblichen Verdächtigen in der Literatur (nix sag‘ ich dazu, wegen politischer Korrektheit), tritt eine uns nahestehende, international präsente Subkultur ins Rampenlicht: Senioren als betont wahrheitsscheue Wesen. Alte nutzen Notlügen, um sich expliziter Ansprüche der Kinder und Enkel zu erwehren, z.B. bei Geld oder Zeit. Anstatt offen zu sagen, dass man sich sein Erspartes im Alter erst mal selber gönnt oder die Freizeit endlich nach eigenem Gusto gestaltet, erfinden die Geforderten möglichst akzeptable Ausreden. Alte lügen am Telefon, dass sich die Balken biegen: „Mir geht es gut, mach‘ dir keine Sorgen“ – egal wie einsam und schmerzhaft die vergangenen Tage tatsächlich waren. Um den pflichtbewussten Angehörigen Sorgen zu ersparen. Sie sagen Ähnliches, wenn Gutachter, Betreuer oder Arzt kommen – aus Angst, ihrer Autonomie beraubt zu werden, zum Mündel zu degradieren. Im Alter wird selbstbestimmte Freiheit selbst dem Moralisten zum höheren Gut – vor der Wahrheit. Weitsichtige Alte lügen beim Abschied, denn es geht um wertvolle Erinnerungen an das gemeinsam Erlebte; geschönte Episoden, die länger leben sollen als die bald zu begrabende Wahrheit. Wer will es denn wirklich genau wissen? Heikel wird’s mit dem Lügen, wenn sich der kreative Umgang mit der Realität mit aufkommenden Schwachsinn erfolgreich vermengt, und die Umwelt nicht mehr weiß, ob der Alte noch schwer auf Zack, weil so fantasievoll, ist oder im Zustand der verzweifelten Fehleinschätzung der eigenen Lage.
Wohl denen, die in einer Kultur leben dürfen, in der den Alten ein hohes Maß an Absonderlichkeit selbstredend als typisch alt zugestanden wird. Absonderlich, skurril – klingt das nicht erträglicher als dement?
Ihr global Oldie

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