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Der Rest des Lebens

vignette2012 Hello All, „Heute fängt der Rest Eures Lebens an!“ schleuderte uns Führungskräften ein Berater für Zeit- Management entgegen. Das war ungewohnt weit, weit über unseren eng getakteten Planungshorizont hinaus,  zu Ende gedacht. Wir waren damals zwischen Mitte Dreißig bis Ende Vierzig; umtriebige Geschäftsführer aus einem Dutzend Nationen mit 60+ Stundenwochen als Selbstverständlichkeit. Uns umschwirrten kurz-und mittelfristige Ziele, durchkreuzt von aktuellsten Prioritäten, Krisen und Chancen.Wir spürten täglich die Grenzen unserer Budgets an Zeit, Energie und Kreativität. „Zeit ist Geld“ – in jedem Unternehmen, das im Konkurrenzkampf steht. Wir ließen uns schulen, Gespräche, Sitzungen, Briefe, Terminkalender, Projektabläufe und Dienstreisen produktiver zu nutzen. Wir lernten „Stille Stunden“ einzurichten, um stundenweise am Stück konzentriert inhaltlich arbeiten zu können, abgeschirmt von Anrufen, Besuchen (und Jahre später: von Emails). Wir identifizierten „Zeitdiebe“, um sie auszusperren. „Zeitdiebe“ sind Tätigkeiten und Mitmenschen, die zwar Stunden in Anspruch nehmen, aber einen inhaltlich wenig weiterbringen;  z.B. Unnötiges zu Lesen oder in überflüssige Sitzungen zu gehen. In Sachen „menschliche Zeitdiebe“ waren sich die Manager aus Asien und Lateinamerika mit den Nordamerikanern und Nordeuropäern nicht einig. Der zweckfreie Plausch am Kaffeeautomaten mit Mitarbeitern erschien den Nordlichtern ein typischer Zeitdieb zu sein; Südländer sahen darin jedoch einen Wohlfühlfaktor und Asiaten eine Informationsquelle zur „Stimmung im Laden“.
Im Ruhestand ist mein Terminkalender nun wesentlich weitmaschiger gestrickt. Dennoch hallt mir das „Heute fängt der Rest vom Leben an“ bedrohlicher denn je in den Ohren. Mehr Zeit nach „hinten raus“ als vor 25 Jahren habe ich nicht. Ich muss mit dem Widerspruch klar kommen, zwar pro Tag mehr, aber in der unbekannten Summe wesentlich weniger Zeit für meine Lebensziele zu haben. Wie finde ich eigentlich   lohnende Ziele für diesen biographischen Abschnitt? – Das ist einen  neuen Blog wert .-  Braucht man als Ruheständler ebenfalls „stille Stunden“ oder sogar „stille Tage“ die nur einem selbst gehören? Ist das zu egozentrisch, zu westlich oder nordisch gedacht? Und wie ist das mit den aktuellen Zeitdieben? Lasse ich mir wieder wertvolle Zeit klauen, die fehlt, um das Beste aus meinem „Rest des Lebens“ zu machen? Sollte ich Bekanntenkreis, Fernsehen, Trivialmeldungen in der Presse, Hobbies und  Hausarbeit auf  deren Zeitdiebpotential prüfen und die Zeitverschwender erneut rigoros aussortieren?
Ein alter Freund in Spanien sagte mir, das seien völlig unangemessene Gedanken für einen Ruheständler; mentale  Reflexe  aus dem auf Effizienz getrimmten früheren Berufslebens –  aber im Alter nun völlig unerheblich, ja sogar schädlich für die Gesundheit und ein entspanntes Sozialleben. Gleichzeitig nehme ich eine ganze Reihe an sicher genauso kluger Veröffentlichungen zum „richtigen Altern“, wahr, die besagen: Lass‘ Dich nicht treiben, lebe gerade jetzt ganz bewusst selbstbestimmt und zielorientiert; nimm‘ Verpflichtungen und soziale Verantwortung auf Dich; strukturiere Deine Zeit. Damit sie wertvoll bleibt, teile sie mit Augenmaß ein und relevanten Mitmenschen zu. Denn es geht um Dein Wertvollstes,  „den Rest des Lebens“.
Vielleicht tun sich mit der Auflösung solcher Gedankenübungen Anhänger asiatischer Weltanschauungen leichter, die sich als Teil eines ständig wiederkehrenden Lebenszyklus sehen. Darin geht keine Zeit verloren; höchstens verliert man sich selbst in der Zeit. Aber  für alle anderen gilt: Obacht “Dreh’ Dich nicht um, die Restzeit geht um…”
Ihr Global Oldie
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Siehe auch „Vom Umgang mit der Zeit“, magazinsechsundsechzig Ausgabe 3/2014, S. 15 und dort angekündigte Veranstaltungen vom 2.10- 7.12 sowie Vortrag vom 29.10.2014

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