Wechselbad der Gefühle: Tod eines Fieslings

»Ich bin noch am Leben, du bist tot. Also fick dich«, triumphiert Ehefrau Barbra. US-Autorin Jami Attenberg (50), die mit Vorliebe alptraumhafte Familienverhältnisse seziert, schaut in ihrem neuen Roman »Alles ist deins!« aus der Perspektive der Überlebenden auf den so plötzlich Verblichenen. Sympathischer wird er dadurch nicht, im Gegenteil. Aber es ist auch nicht zu übersehen, dass alle ein Leben lang viel geschluckt und mitgespielt haben, und dass sie von ihren Deals mit dem Fiesling durchaus profitiert haben.
Das abgründige Drama spielt wohl nicht zufällig im New Orleans der Trump-Ära. Doch mehr als die gesellschaftspolitische Grundierung der Tuchman-Story liefert der andere Lügner und Pussy-Grabscher im Oval Office hier nicht. Ob alles Private politisch ist? Jami Attenberg interssiert sich mehr für die erschöpften Hinterbliebenen, die sich nach Wahrheit sehnen, nach einer Entschuldigung und vor allem nach dem Ende der Verletzungen.
Vor allem Tochter Alex will von ihrer in schönem Schein erstarrten Mutter endlich wissen, was der Vater angerichtet hat. Sie scheitert. » ›Ach, Alex.‹ Ihre Mutter vergoss eine edle, diamantene Träne. ›Du warst immer so klug und wissbegierig, aber du musst nicht jede Kleinigkeit wissen.‹« Es hat, da sind sich Kinder und Kindeskinder einig, nie einen Funken Ehrlichkeit gegeben in dieser Familie.
Vor allem die Frauen, deren Selbstwertgefühl unter einer rigiden Schönheitsdiktatur steht, kommen im Buch (endlich) zu Wort. »Dünn und hübsch« lautet ihr Mantra, Ehefrau Barbra treibt es dazu, vor der Intensivstation, in der ihr Mann im Sterben liegt, auf und ab zu rennen, weil der Schrittzähler das verlangt. Victor hat sie betrogen und geschlagen; dafür gab’s teure Uhren. Schmiergelder seien seine Spezialität gewesen, sagt die Witwe.
Ob und wie Tuchmanns Erben ihren Frieden machen mit dem Alten und mit sich selbst, analysiert Jami Attenberg mit demselben unbarmherzigen Realismus wie die Zeit vor Victors Tod. Dass er, notgedrungen, endlich schweigen muss, macht vieles möglich.
Jami Attenberg, »Ist alles deins!«, Verlag Schöfflung & Co 2021, Jami Attenberg, 320 Seiten, 24 Euro
Sams Sommer

Macht nichts. Wells schreibt so hervorragend und schildert seine jugendlichen Figuren mit so viel Empathie und Menschlichkeit, dass man durch sein Buch hindurchgleitet wie der Löffel durch eine Riesenportion Sahneeis. Manchmal vielleicht ein wenig zu süß, und manchmal ist es sehr vorhersehbar, was der 15-jährige Sam in einer Kleinstadt in Missouri einen Sommer lang erlebt und durchstehen muss. Es liest sich trotzdem weg wie nichts, und das mit Genuss.
Der Vater ist arbeitslos, die Mutter leidet an einem unheilbaren Hirntumor. Der ängstliche, introvertierte Junge ist alles andere als unbeschwert, als er beim Ferienjob im örtlichen Kino auf eine verschworene Clique trifft. Auf Hightower, den schwarzen Footballspieler, auf den schwulen Cameron und auf Kirstie, an die er sein Herz verlieren will. Immer wieder muss er sich überwinden, um dazuzugehören, er muss Mutproben bestehen, den ersten Kuss küssen und sich danach mit Liebeskummer quälen, wie sich das gehört mit 15.
Als Sams Mutter stirbt, wird alles anders. Die eigenwilligen Freunde und die Angebetete entpuppen sich als verlässliche Freunde, die den Trauernden auffangen, besser, als das die in ihren eigenen Traumata gefangenen Erwachsenen können. Dass Benedict Wells seinen Protagonisten Gitarre spielen und im Kleinstadtkino arbeiten lässt, gibt ihm die weidlich genutzte Möglichkeit zu einer Fülle von Querverweisen auf Musik und Filme der 80-er Jahre. Auch die Literatur spielt eine nicht unbedeutende Nebenrolle in »Hard Land«, und am Ende gibt es sogar die Playlist zum Buch! Ein bittersüßes Lesevergnügen, auch wenn hin und wieder ein klitzekleiner Kitschverdacht aufkommt.
Benedict Wells, »Hard Land«, Diogenes Verlag 2021, 352 Seiten, 24 Euro, auch als Hörbuch erhältlich.
Wo alles beginnt

Auch wenn einem etwa bei der Lektüre von John Harvey Kelloggs Anti-Onanie-Rezept das Lachen im Hals steckenbleibt. Der Arzt und Erfinder der Cornflakes (1852 – 1943) empfahl ätzende Karbolsäure gegen weibliche Sinneslust und ist einer von vielen Männern, die das weibliche Geschlechtsorgan über die Jahrhunderte beschäftigt hat. Mit üblen Folgen. Weltweit werden Frauen immer noch beschnitten; wohl die brutalste Form patriarchaler Dominanz.
Zugegeben, ohne gut geputzte Lesebrille ist Strömquists Bildergeschichte kein Vergnügen. Die Texte im Handschriften-Look sind manchmal so winzig, dass man verzweifeln möchte. Doch es lohnt die Mühe, sich vom Vulva-Kult der Steinzeit über die Hexenverfolgung bis hin zu Freuds seltsamer Frigiditätstheorie durchzukämpfen. Einzelne Kapitel widmet Strömquist der Klitoris, dem Orgasmus, und beim Thema Menstruation kommt endlich Farbe auf die sonst schwarz-weißen Seiten.
»Der Ursprung der Welt« ist ein feministisches Aufklärungsbuch ohne erhobenen Zeigefinger. Langeweile ausgeschlossen.
Liv Strömquist, »Der Ursprung der Welt«, avant-Verlag 2017, 140 Seiten, 19,95 Euro
Was sich liebt …

Jenny Erpenbeck, geboren 1967, schreibt in »Kairos« über eine DDR, in der sie selbst aufgewachsen ist. Der Ton ist lakonisch, manchmal atemlos, wenn er sie wieder kleinmacht und die Risse in dieser geheimgehaltenen Verbindung immer tiefer werden. Draußen verrottet Ende der 80-er Jahre der Staat, gegen den sich weder Katharina noch Hans als Künstler aktiv stellen mögen. Drinnen kann sie nicht lösen, was sie zunehmend lähmt.
Erpenbeck findet beeindruckende Bilder für diesen doppelten Verfall. Während vor ihrem Haus demonstriert wird, sitzt Katharina mit Kopfhörern am Schreibtisch und lauscht den vielfältigen Vorwürfen, die er ihr auf Kassette gesprochen hat. Sie hat mit einem anderen, Jüngeren geschlafen. Hans, der seine Ehe seit jeher nur durchs Fremdgehen lebendig erhält, verzeiht nicht.
Es ist eine Liebe, die Metapher für die Lage im Land ist. Man hält fest an der vertrauten Lüge und kann den Niedergang doch nicht aufhalten. Hans steht für die Vergangenheit, Katharina für den Beginn des Neuen, trotz all ihrer Unterwürfigkeit, die einen beim Lesen manchmal rasend macht.
Warum sich das Buch unbedingt lohnt? Lesend erfährt man viel über das Innere der DDR und die Nachwendezeit.
Jenny Erpenbeck, »Kairos«, Penguin-Verlag 2021, 384 Seiten, 22 Euro, auch als Hörbuch erhältlich.
Buchkritiken: Claudine Stauber
Mehr als blaue Bohnen: Kochbuch zum 75. Geburtstag des Comic-Cowboys Lucky Luke

Nun, eigentlich ist Lucky Luke Franzose. Und diesem Volksstamm wurde seit jeher eine Nähe zur Kulinarik nachgesagt. In einem seiner Abenteuer ist der gar nicht so einsame Reiter aus dem Zeichenstift mit den Allüren eines französischen Küchenchefs konfrontiert worden. In einem anderen wurde er in die Geheimnisse der chinesischen Speisezubereitung eingeweiht.
Warum ihm also kein Kochbuch widmen, jetzt, wo er gerade 75 Jahre alt geworden ist? Im Seniorenalter steigt man gern mal vom Pferderücken auf den Restaurant-Stuhl herunter. »Lucky Luke – Das Kochbuch« ist selbstverständlich Marketing und Futter für die Fans. Doch es birgt durchaus ein paar wenig abgenudelte Rezepte für den Speiseplan.
Dabei merkt man ihm die französische Herkunft durchaus an. Merguez zum Beispiel, scharfe arabische Würste, wie sie für die Zubereitung eines »Hot Dogs Rantanplan« (so heißt der blöde Hund, der Lucky Luke bei der Suche nach den Daltons hilft), sind weder hierzulande noch in Texas leicht zu bekommen. Auch eine Vorliebe von Sioux und Apatschen für Tartes kann man sich kaum vorstellen.
Das Kochbuch versammelt allerdings nicht nur Rezepte, sondern auch Geschichten. Es zeichnet die 75-jährige Erfolgs-Story des Comic-Helden aus der Feder von Künstlern wie Morris, René Goscinny und Achdé kurz nach und präsentiert die lustigsten Ess-Szenen aus den rund 100 Alben der Serie. Ein großes Lesevergnügen!
Übrigens geht es in der Geburtstags-Hommage, die der deutsche Comic-Meister Ralf König für Lucky Luke gezeichnet hat, nicht nur um schwule Cowboys, sondern auch um Kulinarisches. Im Zentrum des Albums stehen Schweizer Kühe, deren Milch für besonders »Zarten Schmelz« (so der Titel) von Prärie-Schokolade sorgen soll.
»Lucky Luke – Das Kochbuch«, Egmont Verlag 2021, 29 Euro
Buchkritik: Herbert Heinzelmann
Weitere Tipps:
»August und ich«

Werner Haussel, »August und ich«, Biografischer Roman, Books on Demand, Norderstedt, 2020. 214 Seiten, 15,95 €, ISBN 978-3-751950-99-2
»Fürther Wirtshaus-Geschichten«
Fürth ist für seine zahlreichen Gastwirtschaften weithin bekannt, die Gustavstraße hat über die Stadt hinaus einen Ruf als Ausgehmeile. Für das Jahr 1804 ist belegt, dass es in der Kleeblattstadt 168 Gasthäuser gab. Auf 71 Fürther kam damals eine Wirtschaft – eine unglaubliche Quote. Es gibt viele Geschichten über die Gastronomie zu erzählen. Stadtheimatpflegerin und sechs+sechzig-Autorin Karin Jungkunz hat viel recherchiert für ihre in diesem Wandkalender abgedruckten Wirtshaus-Geschichten, die Fotograf Gerd Axmann liebevoll illustriert hat.
Karin Jungkunz und Gerd Axmann, »Fürther Wirtshaus-Geschichten«, Wandkalender für 2022, 24,80 €
»Die Leute vom Hauptmarkt«
Der Hauptmarkt ist die Gute Stube der Nürnberger, hierher kommt man zum Einkaufen, Feiern oder Flanieren. Für die in der Innenstadt lebenden Nürnberger und sechs+sechzig-Grafiker Sabine Weiß und Wolfgang Gillitzer ist der Hauptmarkt aber auch Nachbarschaft. Jeden Tag überqueren sie den Platz auf dem Weg zur Arbeit. Sie kennen die »Leute vom Hauptmarkt«, die hier an ihren Ständen stehen. Mit ihrer Analogkamera haben Weiß und Gillitzer die Menschen und den Platz in zwölf atmosphärisch dichten Bildern in Schwarzweiß eingefangen.
Sabine Weiß und Wolfgang Gillitzer, »Die Leute vom Hauptmarkt«, Wandkalender für 2022, Bartlmüllner Verlag, Nürnberg, 19 €, ISBN 978-3-942953-82-5





