Seit einiger Zeit interessiert sich das Kino wieder für Menschen über sechzig. Neben Teenies und Superhelden erweisen sich die Alten als veritable Filmhelden, die ihren Streifen lange Laufzeiten bescheren. Hier nur ein paar Titel aus jüngster Zeit: „Bis zum Horizont, dann links!“ von Bernd Böhlich, „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ von Stéphane Robelin, „Dein Weg“ von Emilio Estevez, „The Best Exotic Marigold Hotel“ von John Madden. Das alles sind ganz schöne Filme. Aber es sind auch Filme, die alte Menschen in Ausnahmesituationen exotischer Bewährung oder konstruierter Vergnüglichkeit zeigen. Es sind Wohlfühlfilme, um den englischen Ausdruck „Feelgoodmovies“ adäquat ins Deutsche zu übersetzen. Die Frage ist, ob man unentwegt solche Mutmachfilme braucht, oder ob man nicht manchmal auch mit den alltäglichen Problemen des Alters konfrontiert werden möchte. Die Frage ist also, ob das Kino mit all den Heiterkeiten nicht eigentlich die Alten diskriminiert.
Vor zehn, zwölf Jahren trat die Diskriminierung noch ganz offensichtlich zu Tage. Deutschland war mit Multiplexkinos überzogen worden, die sich fast ausschließlich an das jugendliche Publikum der Cola-Trinker und Popcorn-Verzehrer wandten. Die Filme waren ganz schnell geschnitten, die Lautsprecher wurden aufgedreht. Die Alten flohen aus diesen Kinoburgen. Man setzte kommerziell auf das Filmerlebnis als Jugendphänomen. Die Alten wurden abgeschrieben, ganz genau wie im so genannten Privatfernsehen. Schließlich haben Ältere Lebenserfahrung und bilden daher nicht die „werberelevante“ Zuschauerklientel, die sich gedankenlos zum Produktkauf verführen lässt. In ihrem grellen Auftreten schienen sich Kino und Privat-TV anzunähern. Allerdings sind die Jugendlichen inzwischen zu noch neueren Medien übergelaufen. Sie brauchen keine Kinos mehr, um Filme zu sehen. Als Kunden und Konsumenten verflüchtigen sie sich in den digitalen Netzen. Und plötzlich sind die Alten mit ihrer Beständigkeit wieder gefragt.
Die Stars mit den Silberlocken
In den Multiplexen wurden Seniorenvorführungen etabliert. Der langsame, nachdenkliche, gefühlsintensive Film bekam neben der lauten Jahrmarktsunterhaltung seine Chance. Und die Drehbuchautoren entdecken zunehmend die Attraktivität der Stars mit den Silberlocken. Wir wissen, dass in Mitteleuropa der Bevölkerungsanteil betagter Menschen besonders rasch wächst. Die wollen ihresgleichen auf Leinwänden und Bildschirmen sehen.
Es hat immer genügend Kinostoff für sie gegeben. Der Film war nie das Medium für Blutjunge, als das er sich gern verkaufen würde. In der Filmgeschichte leuchten viele Streifen über Alte, die nicht nur für Alte gemacht waren. Auch in den neuen Produktionen amüsieren sich Generationen übergreifend junge Menschen. Das ist die Kunst des Kinos: nicht auszugrenzen durch Zielgruppenspezifizierung, sondern zu integrieren durch besondere Qualität.
Erinnern wir uns also bunt gemischt an große Filme über das Alter, zu dem auch das Sterben gehört. Sogar der eiserne Kerl John Wayne hat es vorgeführt. In Don Siegels „The Shootist“ spielte er 1976 – selbst schon krebskrank – einen Revolvermann, den Metastasen zerfressen und der zum Showdown kaum noch fähig ist. Charlie Chaplin zeigte 1952 das Sterben des Stars (und des Clowns) in „Limelight“, einem Film, bei dem sich schämen muss, wer nicht weint. Auf dem Altersweg in den Tod haben Regisseur Theo Angelopoulos und Marcello Mastroianni als Hauptdarsteller in „Der Bienenzüchter“ 1986 einen Griechen begleitet, und mit Bruno Ganz hat derselbe Regisseur in „Die Ewigkeit und ein Tag“ das Sterbethema 1998 mit größerer Gelassenheit bearbeitet.
Mit Hal Ashbys „Harold und Maude“ hat das Kino 1971 wohl das schönste Poem über die (fast erotische) Zuneigung von Alter und Jugend geschaffen. Aber die Konflikte zwischen den Generationen – zumal in der eigenen Familie – sind weitaus realistischer. Ganz anrührend hat der japanische Regisseur Yasujiro Ozu das Thema 1953 in „Die Reise nach Tokio“ behandelt. Die Eltern vom Land besuchen die Kinder in der Stadt – und Kommunikation ist kaum noch möglich. Giuseppe Tornatore, der Italiener, hat 1990 in „Allen geht’s gut“ die drohende Alterseinsamkeit mit melancholischem Augenzwinkern aufgegriffen. Und 2008 hat Gianni di Gregorio in „Das Festmahl im August“ die Tendenz wieder ins Heitere gedreht. Ein Mann mittleren Alters und vier lebenslustige Omas, darunter die eigene Mutter…
Die Vergänglichkeit des Lebens
Von der Lebenslust im Alter handeln unter anderem Bernard Sinkels „Lina Braake“, „Mammuth“ mit Gérard Depardieu auf dem Motorrad und „The Straight Story“ von David Lynch, in dem ein alter Mann auf einem Rasenmäher quer durch die Vereinigten Staaten fährt, um seinen kranken Bruder zu besuchen. Und selbstverständlich ganz körperlich und sexuell Andreas Dresens „Wolke 9“. Mutmachfilme sind das alles, allerdings nicht auf die oberflächliche Art, sondern stets gemischt mit einem kleinen Hinweis auf die nahe Vergänglichkeit in dieser Lebensepoche.
Vielleicht neigen manche Menschen dazu, das Alter zu diskriminieren, gerade weil es sie an diese Vergänglichkeit erinnert, die sie so gern verdrängen möchten. Ausgrenzung dient immer einer fragwürdigen Bestätigung prekärer Selbstwertgefühle. Keiner hat das so präzise analysiert wie Rainer Werner Fassbinder in „Angst essen Seele auf“. Eine alte Frau und ihre zärtlichen Gefühle zu einem jungen Araber, der sie erwidert. Und die engstirnigen Nachbarn, die sich das Maul zerreißen!
Immer wieder hat das Kino gezeigt, dass man sich nicht unterkriegen lassen darf. Spencer Tracy besiegt in der Hemingway-Verfilmung von 1958 als alter Mann das Meer, das ihm alles genommen hat. Am Ende träumt er von den Löwen. Denn die Träume (auch die aus der Traumfabrik des Kinos) kann man niemandem nehmen – wie alt auch immer er (oder sie) werden mag.
Herbert Heinzelmann