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Schrullen sind keine Krankheit

Prof. Frieder Lang rät Senioren, sich den Veränderungen im Alter mit Gelassenheit zu stellen. Foto: Michael Matejka
Altwerden bedeutet Veränderung. Nicht immer zum Vorteil. Schon Cicero stellte fest, »die Alten sind mürrisch, ängstlich, zornig, schwierig und – bei genauer Betrachtung habsüchtig. Jedoch sind dies sittliche Fehler der Persönlichkeit, nicht Eigenschaften des hohen Alters.« Entwickeln Menschen im Alter Macken oder Schrullen oder nehmen gar Störungen in der Persönlichkeit zu? Wir sprachen darüber mit Dr. Reinhold Waimer, Leitender Oberarzt der Gerontopsychiatrie im Nürnberger Klinikum, und Professor Dr. Frieder Lang, Direktor des Instituts für Psychogerontologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
sechs+sechzig: Eine 75-Jährige zerkratzt Autoscheiben, weil sie mit den parkenden Fahrzeugen vor ihrer Haustür nicht zurechtkommt; ein 70-Jähriger streckt der Polizei die Zunge heraus, weil Beamte in seiner Wohnstraße eine Geschwindigkeitskontrolle vornehmen; ein Senior bedroht einen Feuerwehrmann mit dem Gummiknüppel. Wie stuft man solch aggressives Verhalten ein?
Lang: Ich rate davon ab, von Einzelfällen auf Merkmale einer gesamten Lebensphase oder Bevölkerungsgruppe zu schließen. Mir sind keine Belege aus wissenschaftlichen Studien bekannt, wonach Menschen mit zunehmendem Alter »schrulliger« werden oder zunehmende »Macken« der Persönlichkeit entwickeln. Wenn überhaupt, dürfte wohl eher das Gegenteil richtig sein.
Meinen Sie junge Leute?
Lang: Junge Erwachsene sind oft noch unbeholfen in ihren sozialen Rollen. Nehmen Sie das, was allgemein unter »Vorglühen«, »Saufgelagen« oder »Randalieren« abläuft. Immer mehr junge Leute kommen schon angetrunken zum Oktoberfest. Viele Alkoholpartys enden mit Schlägereien, man ist entsetzt über die Zerstörungswut junger Leute.
Bestimmte psychische Erkrankungen nehmen, wie eine Statistik besagt, im Alter aber zu, besonders degenerative Hirnerkrankungen.
Waimer: Alter kennt viele Richtungen und verläuft individuell verschieden. Diese Entwicklung kann zu Weisheit führen, aber auch zu Starrsinn und Sturheit. Nimmt das renitente Verhalten eines alten Menschen beängstigend zu, kann es sich dabei auch um eine beginnende psychische Erkrankung handeln, etwa einen Hirnabbauprozess im Alter. In seltenen Fällen kann so ein Mensch für seine Umgebung gefährlich werden. Beispiel: Ein Rentner, der wiederholt Unfälle verschuldet und dabei Passanten wie Polizisten beleidigt, muss gegebenenfalls auch mit einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik rechnen.
Was wird bei der Behandlung berücksichtigt?
Waimer: Es könnte sich hier um eine frontotemporale Demenzerkrankung handeln. Betroffen ist das Frontalhirn eines Menschen, in dem das Gewissen sitzt, das Über-Ich. Das Gehirn baut ähnlich ab wie das menschliche Herz. Hirnabbauprozesse kann man meist nicht heilen, sondern nur den Verlauf durch eine multimodale Therapie positiv beeinflussen. Wir wissen aber, dass rund zehn Prozent aller Demenzerkrankungen heilbar sind, weil die Gründe beispielsweise Alkoholprobleme, eine Schilddrüsenerkrankung oder Vitaminmangel sein können. Diese Ursachen werden ambulant oder stationär behandelt, es muss aber immer eine umfassende Untersuchung der Ursachen in unserer Gedächtnissprechstunde oder auf den gerontopsychiatrischen Stationen des Klinikums vorausgehen.
Was hat man sich denn unter einer »Gedächtnissprechstunde« vorzustellen?
Waimer: Seit dem Jahr 2000 gibt es im Klinikum Nürnberg diese Gedächtnissprechstunde, die eine umfangreiche ambulante Gedächtnisabklärung gewährleistet. Bei einem vier- oder fünftägigen Aufenthalt in einer der beiden gerontopsychiatrischen Stationen am Klinikum ist auch eine exakte Demenzdiagnose möglich. Neben der Beurteilung, wie die Betroffenen mit dem Alltag zurechtkommen, gehört dazu eine Kernspintomografie und eine Durchblutungsuntersuchung des Gehirns, zudem eine Ultraschalluntersuchung der Halsschlagader, die Diagnostik der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit oder die Untersuchung der Blutwerte.
Sie sprechen bisweilen auch von einem »Matthäus-Effekt«, der sich auf das Matthäus-Evangelium bezieht. Da heißt es bekanntlich: »Denn jedem, der hat, wird gegeben, und er wird Fülle haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden.« Was bedeutet das in der Altersmedizin?
Lang: Auf das Altern bezogen kann das bedeuten, dass jene, die viel darin investieren und sich darum bemühen, eigene Kenntnisse und Fähigkeiten zu mehren, noch bis ins hohe Alter hinzugewinnen. Daraus folgt, dass Menschen mit Bildung, Vitalität und positiver Persönlichkeit im Alter über mehr Fähigkeiten verfügen als Menschen mit weniger sozialer und persönlicher Kompetenz.
Unterm Strich: Was raten Sie denn einem Ruheständler, wenn er lange geistig fit bleiben will?
Waimer: Er sollte sich mit der inzwischen längeren Phase des Altwerdens sinnvoll und kritisch auseinandersetzen. Und immer wieder überlegen: Wie bringe ich meine Erfahrungen ins Leben, in die Gesellschaft, in die Partnerschaft ein? Er sollte in sich hineinhorchen: Wohin führt mein Weg? Was tut mir gut? Wie kann ich das Leben genießen?
Horst Mayer; Fotos: Michael Matejka
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Die nächste Vorstellung
Am 29. September findet um 15.30 Uhr die nächste Nachmittagsvorstellung für Senioren statt. Kartenvorverkauf am Telefon unter der Nummer 0180 / 5231600.
Kartenservice und Infohotline: montags bis freitags 9 bis 18 Uhr, samstags 9 bis 13 Uhr.
Dr. Reinhold Waimer rät Älteren, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Foto: Michael Matejka

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