
Vor dem Wohnhaus von Heimo Ertl in Effeltrich bei Forchheim liegt ein mächtiger, in viele Stücke gesägter Baumstamm. Nun muss der 79-Jährige die einzelnen Teile mit seiner Spaltaxt zerkleinern, um sie als Kaminholz verwenden zu können.
»Mir liegt das Handwerkliche. Den ganzen Tag ausschließlich lesen, das wäre mir zu wenig«, meint der frühere Direktor des Nürnberger Caritas-Pirckheimer-Hauses (CPH), der zahllose Seminare gegeben, Diskussionen geleitet, Vorträge gehalten und Publikationen herausgegeben hatte, »ich musste schon immer etwas mit den Händen machen.« Das fing beim Hausbau 1979 an, viele Arbeiten – wie das Verlegen der Fußbodenheizung in drei Etagen – hat Ertl mit etwas Unterstützung selbst erledigt. Ein Jahr zuvor hatte er beim Hausbau seines Schwagers mitgeholfen und sich einiges Wissen angeeignet, das ihm später zugute kam.
Im Alter seine Liebe zum Bronze-Guss entdeckt
Doch es muss nicht die ganz große Baustelle sein, es geht auch ein paar Nummern kleiner. Während seiner fast 23 Jahre dauernden Arbeit im CPH, dem katholischen Bildungshaus der Erzdiözese Bamberg, hatte er begonnen, Bronze-Skulpturen zu entwerfen. Und das künstlerische Schaffen hat sich beim Abschied in die Rente im Jahr 2007 verstärkt. Ohne Zeitdruck, ohne Zwang kann er sich nun in sein Atelier – das einstige Kinderzimmer seiner Tochter – zurückziehen. Bei Musik von Rossini, Mozart oder Haydn versucht er, einer Idee eine Form zu geben.
Dabei muss sich der Akademiker langsam herantasten, bis die Vorstellung in seinem Kopf tatsächlich Gestalt annimmt. Manchmal ist eine Unterbrechung hilfreich: »Man muss zurücktreten und etwas aus der Ferne betrachten«, zitiert er den 1980 während einer Messe erschossenen, katholischen Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero.
Dieser prominente Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hatte auch wichtige Impulse für Ertls frühere Arbeit als Akademie-Direktor gegeben. In vielen Veranstaltungen im CPH ging es um das Einfordern der Menschenrechte, um Sozialpflichtigkeit des Eigentums, um den Dialog der Religionen. Die progressive katholische Soziallehre in den politischen Alltag einzubringen, ist ihm heute noch ein Anliegen. Darüber spricht er auch, doch diese Themen sollen seinen Alltag nicht mehr zu sehr dominieren.
Endlich Herr seiner Zeit
»Ich habe meinen Beruf mit Leidenschaft gemacht, da ist für vieles Anderes nicht genug Zeit geblieben«, meint der Vater von drei Kindern, der einiges jetzt nachholt. Er genießt gemeinsam mit seiner Frau den herrlichen Garten mit seinen vielfältigen Blumen und Stauden, er freut sich über die Besuche der längst erwachsenen drei Kinder und von Freunden oder macht mit den Enkeln einen Ausflug zu einer Sommerrodelbahn. Ertl diskutiert im privaten Literaturkreis über aktuelle Romane, oder er zieht sich ins Atelier zurück, um an seinen Kunstwerken zu arbeiten. Langweilig wird ihm nicht, er freut sich, Herr seiner Zeit zu sein.
Ertl entwirft die Modelle aus Gips exakt bis ins letzte Detail. Ein Formenbauer und Metallgießer sorgt anschließend für die Umsetzung in Bronze und die Ziselierarbeiten, also den Feinschliff. Manchmal sind es biblische Motive wie die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria. Die knapp einen Meter hohe Skulptur steht in der katholischen Pfarrkirche im mittelfränkischen Eckental. Der Künstler hat sich von traditionellen Darstellungen gelöst: Auf mittelalterlichen Gemälden sieht man den Engel und Maria oft fast vertraut nebeneinander stehen. Ertls Skulptur will dagegen die Schrecksekunde festhalten, von der im Lukas-Evangelium die Rede ist: Mit Karacho stürzt der Erzengel durch die Decke ins Zimmer, die erstarrte Maria hebt abwehrend beide Hände.
Der Bildhauer will vertraute Sehgewohnheiten durchbrechen und einen Aha-Effekt erreichen – manchmal versucht er es mit Humor. So hat er eine Miniatur eines dynamisch wirkenden Jockeys geschaffen, der die Peitsche zum Antreiben seines Reittiers schwingt. Doch der Sattel liegt nicht auf dem Rücken eines muskulösen Pferdes, das im Galopp sprintet, sondern auf einer Schnecke.
Augenzwinkern auch bei der Skulptur Europas: Die Königstochter aus der griechischen Mythologie wird traditionell mit dem in einen Stier verwandelten Gott Zeus dargestellt. Sie sitzt bei Ertl ebenfalls auf dem Rücken des Rindes. Doch die junge Frau hält ein Buch in der Hand und Ertl hat der Skulptur den Titel gegeben: »Europa liest das Schengen-Abkommen«.
Machen, nicht schwätzen
Gelegentlich sind es Auftragsarbeiten wie »König David mit der Harfe«: Bei der Beerdigung des Künstlers Emil Wachter im Jahr 2012 bat ihn ein Bekannter, zur Erinnerung an den Verstorbenen eine Skulptur des alttestamentarischen Herrschers zu entwerfen. Denn Wachter hatte sich oft mit dem Musikinstrument und David beschäftigt.
Der in Baden-Württemberg wirkende Wachter beeinflusste Ertls Schaffen. Besonders dessen Spruch »Machen musst du es, nicht schwätzen« hat der fränkische Akademiker verinnerlicht. Und auch einen Trick schaute er sich bei seinem Vorbild ab: Wachter hatte einen Spiegel aufgehängt, in dem er seine Skulptur bei der Entstehung aus einem anderen Blickwinkel betrachten und die Proportionen besser beurteilen konnte.
Auch im Effeltricher Atelier hängt ein Spiegel, damit man beim Kunstwerk den richtigen Dreh, die überzeugende Körperhaltung hinbekommt. »Der Reiz liegt darin herauszufinden, wie das eigentlich geht. Das Interessante ist das Arbeiten«, erläutert Ertl. »Wenn das Werk fertig ist, bin ich fast ein wenig enttäuscht.« So hatte er die Figuren eines Tango tanzenden Paares zunächst einzeln geformt, um sie anschließend zusammenzufügen. Doch es funktionierte nicht, der Skulptur fehlte der Schwung, die Leichtfüßigkeit. Erst als das Duo in einem zweiten Versuch als Einheit entstand, war Ertl zufrieden.
Eine Hilfe bei seiner bildhauerischen Entwicklung war das Standardwerk von Gottfried Bammes »Anatomie für Künstler«, in dem Körperaufbau, Muskulatur und Schrittfolgen exakt dargestellt sind. Auf dieses Buch ist er gestoßen, als er einen Künstlerkollegen um Rat fragte, weil seine Esel nie wie die Huftiere aussahen, sondern immer wie Hunde. Daraufhin erhielt er den Tipp, doch einmal im »Bammes« nachzuschlagen.
Schon in der Schulzeit hat Heimo Ertl seine kreative Ader ausgelebt – unterstützt von seinem damaligen Kunstlehrer. Linolschnitte, Zeichnungen, Tuschemalerei, Holzschnitzereien – der Schüler probierte alles aus. Als Senior hat er schließlich den Bronzeguss für sich entdeckt: »Ich empfinde das Arbeiten daran als sehr beruhigend und meditativ. Und es ist eine große Freude, wenn etwas tatsächlich gelungen ist. Der Weg dorthin, das Wie, ist entscheidend.«
So hatte er als Jugendlicher mit Holz Gewandfalten geschnitzt und festgestellt, mit welch unerreichbarer Meisterschaft im Vergleich dazu der fränkische Bildschnitzer Tilman Riemenschneider seine Figuren gestaltet hat. »Bei der eigenen Unvollkommenheit wächst der Respekt vor den Meistern«, meint der 79-Jährige und betont mit Understatement: »Ich bin ja nur ein kleines Licht.« Ein bisschen Bescheidenheit muss sein, signalisiert Ertl lächelnd, der neben seiner Akademie-Tätigkeit und der Herausgabe zahlreicher Publikationen auch viele Jahre als Professor für englische Literaturwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig war.
Am Ende unseres Besuchs fällt sein Blick an der Effeltricher Haustür auf den mächtigen Holzstamm und die Spaltaxt: »Das Kaminholz kommt als nächstes dran, aber nicht heute.« Er genießt den Luxus, sich Zeit lassen zu können – es drängt ihn ja nichts.
Text: Hartmut Voigt
Fotos: Michael Matejka
Fotos Homepage: Die Bronzeskupturen, wie hier die Tangotänzer oder die sitzende Frau, zeichnen sich durch eine starke Dynamik aus.