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Türöffner zu einer neuen Seite des Lebens

Das Germanische Nationalmuseum ist Angelika Hahn seit ihrem Rentenbeginn zum zweiten Wohnzimmer geworden.

In jungen Jahren fehlt einem oft das Verständnis dafür und in den mittleren die Zeit: Kunst und Geschichte erfordern Muße, die viele erst im fortgeschrittenen Alter haben. Dann entdeckt mancher die Kunst womöglich als ganz neues Feld für sich. Was bedeutet das für sie? Wir haben mit zwei Menschen gesprochen, für die die Kunst ein Türöffner in ein neues Leben geworden ist.

»Ich habe ein neues Leben geschenkt bekommen, mir ist eine ganz andere Seite aufgegangen«, erzählt Angelika Hahn. Das Germanische Nationalmuseum (GNM) ist ihr seit ihrem Rentenbeginn zum zweiten Wohnzimmer geworden. Jede Woche ist die 66-Jährige mindestens zweimal hier und nimmt bei Führungen Impulse zu Gotik, Barock oder Impressionismus auf.

»Das verschafft mir eine tiefe Zufriedenheit«, sagt Hahn. Gelegentlich trägt sie wie die Fans eines Fußballvereins T-Shirts mit einem Hinweis auf ihre Leidenschaft. Nur dass statt 1. FCN oder FC Bayern München eben Germanisches Nationalmuseum draufsteht. Diese Kleidungsstücke hat sie selbst drucken lassen, in der Öffentlichkeit sind sie ein Hingucker: »Als ich beim Bardentreffen damit unterwegs war, haben mir etliche Passanten ,Daumen hoch‘ gegeben.«

Ich war wahrscheinlich zu alt und zu teuer

Die Initialzündung kam plötzlich und unerwartet: Nach 20 Jahren Arbeit in einem Nürnberger Fotogeschäft war ihr gekündigt worden, ein Konkurrent hatte den Laden übernommen. Für die damals 64-Jährige gab es keine Weiterbeschäftigung: »Ich war wahrscheinlich zu alt und zu teuer«, meint die gelernte Fotofachverkäuferin, die mit ihrer Tätigkeit, den Kollegen und dem Verdienst zufrieden gewesen war. Aber nach insgesamt 47 Arbeitsjahren hatte Hahn das Gefühl, dass es genug ist – und Zeit für einen anderen Abschnitt. Sie beantragte Rente. Auf einmal hatte sie unendlich viel Zeit, das hauptsächlich von Arbeit getaktete Leben lag hinter ihr. Sie musste einen anderen Rhythmus entwickeln.

Einen Anstoß dazu bekam sie durch den Kunst-Podcast »Augen zu«. Dort geben der Schriftsteller Florian Illies und der Journalist Giovanni di Lorenzo einmal im Monat gut dosierte Anregungen: Eine dreiviertel Stunde reden sie beispielsweise darüber, ob Kunst einfach nur gute Laune machen darf. Dieser Podcast war für Hahn der Einstieg in eine ihr bis dahin kaum bekannte Welt: »Ich legte mich aufs Sofa, schloss meine Augen, hörte zu und dabei füllte sich mein Kopf mit vielen Bildern«, berichtet Hahn. So macht sie es heute noch, es ist zum Ritual geworden.

Lauter kleine Geheimnisse

Als es in der Sendung einmal um Nürnbergs bedeutendsten Künstler ging, beschloss die 66-Jährige, sich in der Graphischen Sammlung des GNM originale Kupferstiche von Albrecht Dürer vorlegen zu lassen. Das war ein Moment, in dem ihr fast die Luft wegblieb: Ein halbes Jahrtausend lagen zwischen ihr und dem filigranen Kunstwerk! Sie hatte das Gefühl, je länger sie das Blatt anschaute, desto mehr Details und kleine Geheimnisse konnte sie entdecken. »Am liebsten hätte ich den Kupferstich an mein Herz gedrückt, aber das geht natürlich nicht«, merkt Hahn lachend an. Was ihr wichtig ist: »Ich will mir das Staunen erhalten.«

Die Begeisterung und der Respekt vor den Werken haben sie verändert: »Es ist eine große Bereicherung für mein Leben. Ich bin auch früher gelegentlich ins Germanische gegangen. Aber jetzt nimmt die Beschäftigung mit Kunst einen ganz breiten Raum ein, es ist etwas Bestimmendes geworden.« Ihr Horizont erweitert sich, viele Puzzleteile kommen zusammen, das Wissen wächst kontinuierlich. Das mache ihr Freude, und irgendwie müsse sie ihre freie Zeit ja herumbringen, sagt sie. Sie schaut dabei auch über Nürnbergs Tellerrand hinaus: etwa zur spätmittelalterlichen Holbein-Schau im Frankfurter Städel-Museum oder zur Modigliani-Sonderausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie.

Das Glücksgefühl über erfüllte Tage teilt sie gern anderen mit: Sie stellt abends Handy-Bilder in ihren WhatsApp-Status und Bekannte sowie Freunde aus der evangelischen Nürnberger Friedenskirche schauen sich die Fotogalerie an: So nehmen auch Seniorinnen an ihren Kunstausflügen teil, die altersbedingt nicht mehr ihre Wohnung verlassen können. Hahn hat das Gefühl, dass sie damit nicht nur etwas Bereicherndes für sich selbst, sondern auch für andere tut. Das dankbare Echo bestätigt sie.

Stadtführer aus Vergnügen

Thomas Rothe (rechts) heiratete einst in der Lorenzkirche. Heute führt er mit viel ­Sachverstand Interessierte durch das gotische Gotteshaus.

Mit Interessierten das Wissen über Nürnberg teilen, das will auch Thomas Rothe. Der 75-Jährige ist seit vielen Jahren als Stadtführer unterwegs – aus Vergnügen. Von Beruf war er Maschinenbau-Ingenieur. Wie passen seine Technik-Affinität und das ausgeprägte Interesse an Geschichte zusammen? »In der Schule war das Fach todlangweilig, hauptsächlich Schlachten, Herrscher, Jahreszahlen«, erzählt der gebürtige Hamburger, »aber ich hatte einen Kunstlehrer, der mich für Malerei und Architektur begeistert hat.« Und so freute er sich als Jugendlicher beim Familienurlaub zwar über den Strand bei Rimini, aber er wollte auch römische Überreste in Italien besichtigen.

Als er beruflich nach Nürnberg kam, ergab es sich, dass Rothe nicht nur für Programmierung und Sicherheitsanalysen von Kraftwerken zuständig war. Er sollte gelegentlich Firmenkunden aus den USA oder Frankreich durch die City führen – als kulturelles Beiprogramm. So machte er die ersten Schritte als Stadtführer: »Man muss schon etwas von einer Rampensau haben, es muss einem Freude machen, vor anderen zu stehen und zu sprechen«, meint Rothe, »und Nürnberg ist eine tolle Stadt, voller Geschichte und Geschichten.« Doch während der Berufstätigkeit blieb nicht viel Zeit für eine tiefer gehende Beschäftigung damit.

Aber natürlich waren ihm Highlights wie der »Engelsgruß« von Veit Stoß oder das filigrane Sakramentshaus von Adam Kraft in der Lorenzkirche schon damals vertraut. Schließlich hatte er in dem gotischen Gotteshaus eine Nürnbergerin geheiratet und dort im Chor mitgesungen. Als der Ingenieur vorzeitig in Rente ging, war endlich Zeit, sich ausführlich mit Patriziern und Künstlern, der Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs und dem Zusammenleben von Christen und Juden zu befassen. »Wir könnten aus der Geschichte viel lernen, nur wir tun es nicht«, merkt Rothe kritisch an und verweist auf den Antisemitismus. Der lässt sich in mittelalterlichen Skulpturen am Lorenzer Weltgerichtsportal an der Westfassade genauso finden wie derzeit in hasserfüllter Hetze in den sozialen Netzwerken. Doch Nürnberg habe Konsequenzen gezogen, unterstreicht der Rentner, und verweist auf die »Straße der Menschenrechte« oder das »Memorium« im Justizpalast. Das betont er auch bei seinen Rundgängen.

Zum Schluss ein Lob

Der Senior ist mittlerweile Kirchenführer in St. Lorenz, hält Innenstadt-Touren für den Verein »Geschichte Für Alle«, informiert über die technische Entwicklung der Bahn im DB Museum und erklärt seit kurzem auch Kunstwerke im Germanischen Nationalmuseum. Jetzt in der Tourismus-Saison ist er etwa zehnmal im Monat unterwegs, um Zuhörerinnen und Zuhörer mit seiner Heimatstadt, in der er seit 1976 lebt, vertraut zu machen. Natürlich freue er sich über ein Lob am Schluss, schließlich brauche jeder Mensch Bestätigung: Das mache den Alltag sonniger. Was ist ihm noch wichtig an der Beschäftigung mit Kunst und Geschichte? Es mache ihm bewusst, wie viele Generationen schon vor ihm gelebt und diese Stadt mitgeprägt haben. Wir selbst sind nur das vorerst letzte Glied einer langen Kette: Ein Gedanke, der ihn ein wenig bescheiden und demütig mache.

Stolz ist er, dass er mittlerweile im GNM, »seiner persönlichen Champions League der Führungen«, wie er sagt, unterwegs ist. Dafür bereitet er sich akribisch vor. Schließlich liege die intellektuelle Messlatte in dem überregional sehr bedeutenden Museum hoch. Aber Rothe hütet sich vor einem elitären, mit Wissen protzendem Dünkel eines Bildungsbürgers. Da erinnert er sich lieber daran, auf welch mitreißende Weise ihn sein Kunstlehrer vor sechs Jahrzehnten motiviert hat. Und er denkt gerne an eine unerwartete Rückmeldung: Bei einer Führung hatte er einmal eine ziemlich unruhige Klasse. Ob da überhaupt etwas hängen bleibt, fragte er sich. Am Ende kam eine zehnjährige Schülerin zu ihm, reichte ihm die Hand und bedankte sich ausdrücklich. So bekam Rothe für seine Anstrengungen ein kleines Stück Freude. »Es gibt ein Leben nach der Pensionierung«, lautet sein Credo, »und das ist bisher viel schöner als zuvor.«

Text: Hartmut Voigt
Fotos: Claus Felix

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