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Wieviel Angst verträgt die Freiheit?

Goethe in der Campagna: Das Originalbild von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hängt im Frankfurter Städel. Von ihm haben wir uns zu unserem Titelbild des neuen sechs+sechzig-Heftes inspirieren lassen und den Dichterfürsten die Corona-Neuzeit spüren lassen. Abbildung: Wikimedia

Während ich diesen Text schreibe, herrscht noch die Apokalypse. Eine Apokalypse unter geputztem Frühlingshimmel. Blüten an den Bäumen. Es ist kurz vor Ostern. Man denkt an Goethes Faust und seinen berühmten Spaziergang. Aber noch gilt die »Ausgangsbeschränkung« wegen des Corona-Virus’. Auch wenn viele – sogar unvorsichtige journalistische Kolleginnen und Kollegen – anfangen an den Stäben zu rütteln: Wir wollen hier raus! Dabei sind seit dem Beginn der persönlichen Quarantäne keine zwei Wochen vergangen. 

Ich weiß nicht, wie die Lage sein wird, wenn dieser Text in unserem Magazin erscheint. Alles wieder offen? Die Krankheit eingedämmt? Kinos, Theater, Restaurants, Clubs belebt? Keine Angst vor Infektion mehr – vor allem in den Einrichtungen und an den Treffpunkten für Senioren? Wir haben fast alles nicht gewusst und nicht geahnt, was seit März geschehen ist. Das Zusperren von Geschäften, das Hamstern von Toilettenpapier, die Ausbreitung von Homeoffice, die Erstarrung der Produktion, die Schließung von Reisewegen und Grenzen, die Vermehrung der Vermummung auf den Straßen, die Polizeikontrolle von Parks und die Bestrafung von Menschen an Grillfeuern, sogar das Verstummen von Gottesdiensten. Das Selbstverständliche wurde zur Ausnahme. Unsere Freiheiten wurden eingeengt. Und wir Älteren wurden zur Risikogruppe ernannt. Weit über die Risiken der späten Lebensabschnitte hinaus. Besonders bedroht vom Virus und selbstverständlich »schützenswert«! 

Protest gegen die Notstandsgesetze 1968: Tausende waren auf den Nürnberger Hauptmarkt zur Kundgebung gekommen, bei der als erster Elmar Altvater sprach. Foto: Friedl Ulrich

Derzeit geht die Rede davon, dass schützenswert zugleich eingeschränkt bedeuten könnte. Wir haben das Wort »Triage« kennengelernt. Wir wissen, dass es in den Kliniken die Selektion der zum Sterben ausgewählten Menschen gegenüber denen bedeutet, die an Lebensmaschinen angeschlossen werden. Und nun? Wird es eine Triage der Generationen geben? Eine Triage nach Risikogruppen? Die einen dürfen wieder auf die Straßen, die anderen bleiben in den »Schutzraum« des häuslichen Umfelds gebannt? Wie gesagt: Ich stelle mir die Fragen kurz vor Ostern. Ich habe keine Ahnung, wie die Lage der Leser in ein paar Wochen sein wird. Selten war Zukunftsplanung so aussichtslos wie in diesen Tagen. Ich schreibe Befürchtungen nieder, die geäußert werden. Obwohl Überwachung ja nun als Segen gilt. Da ist es beinahe vergessen, dass der »Überwachungsstaat« kürzlich noch als Unheil mit dem Gesicht von Diktaturen gebrandmarkt wurde. 

Wir haben Vieles sehr schnell und ganz widerspruchslos akzeptiert, wogegen wir vor ein paar Wochen noch aufbegehrt hätten: die Einschränkung oder gar Abschaffung der verfassungsmäßigen Freiheit in fast jedem Bereich. Keine Versammlung mehr, keine Demonstration, Bewegung draußen nur mit triftigem Grund, Abstandspflicht, vielleicht Maskenpflicht. Es gibt Orte, da hat man die Bänke abgeschraubt, damit Menschen nicht »verweilen« konnten. Weder Ostermärsche noch Pegida-Aufläufe haben stattgefunden. Die Regierenden riefen den »Notfall« aus. Dabei haben gerade viele der jetzigen »Risikogruppe« aus Altersgründen am Ende der 1960er Jahre heftig gegen die »Notstandsgesetze« gekämpft. Die wurden nicht eingesetzt. Aber in den Bundesländern kamen ähnliche Verordnungen zur Geltung. Und die Bürger schauten gläubig zu den Politikern auf, die ihnen die Freiheiten nahmen. Forderten gar noch strengere Maßnahmen. Scharten sich willig hinter Ministerpräsidenten. Vor allem in Bayern. 

Gute Gründe für den Gehorsam

Wer hätte vermutet, dass wir so leicht zu isolieren sind? So brav zu Gehorsam neigen? Gewiss, man hat uns gute Gründe genannt. Man hat uns der zeitlichen Begrenzung aller Einschränkungen versichert. Die Zweifler und Leugner des Virus’, die törichten Verschwörungstheoretiker, wurden jeden Tag eines Besseren belehrt. Ihre einstigen Wortführer, etwa Donald Trump oder Boris Johnson, mussten sich den Fakten stellen. Wir stellten uns ihnen ebenfalls und verknüpften unsere Unterwürfigkeit mit der Hoffnung, die Macht der Seuche zu beschränken, die uns ihre triumphierende Fratze in Bergamo oder Madrid zeigte. Selbst in den Tagen, da dieser Text erscheint, werden wir nicht wissen, ob uns das gelungen ist.

Man wird uns unsere Freiheiten wohl zurückgeben. Der Mensch hat die ungeheuerliche Fähigkeit zu verdrängen. Manche scharren schon wieder mit den Füßen und sehnen sich nach dem Strand von Mallorca oder der Ausfahrt des nächsten Kreuzfahrtschiffs oder wenigstens nach dem Gedränge der Erlanger Bergkirchweih. Und wir alle haben nun gezeigt, dass gute Untertanen in den Demokraten stecken. Ich weiß nicht, ob sie bald wieder in Anspruch genommen werden. Das könnte sein, denn nach der Corona-Krise wird es in vielen Bereichen weniger Sicherheit geben. Vor unserer Volkswirtschaft gähnt ein großer Abgrund. Viele werden sich weniger leisten können. Manche werden ihre Arbeit verloren haben, weil der so genannte »Shutdown« ihnen die Existenzgrundlage wegschlug. Das Virus wird bleiben, und unsere Ängste werden erst durch wirksame Impfstoffe und Medikamente beschwichtigt werden. Aber die Fachleute malen die Ankunft des nächsten Virus’ schon an den Horizont. 

Der Mensch soll sich an die Freude halten

Wir müssen folglich lernen, uns der Unsicherheit unserer Lebensgrundlagen bewusst zu bleiben. Wir müssen bereit sein zur Einschränkung im Krisenfall, aber mehr noch zur Verteidigung unserer Freiheiten als Normalität. Das Auftreten von Corona hat uns wie ein Menetekel daran erinnert, was im Buch »Prediger« der Bibel steht: Alles ist eitel. Mit der Konsequenz: »Darum soll sich der Mensch an die Freude halten. Er soll essen und trinken und sich freuen; das ist das Beste, was er unter der Sonne bekommen kann.« Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns im Zeichen und in Zeiten der körperlichen wie geistigen Ansteckungsgefahr, ob fromm oder agnostisch, an diesen Ratschlag zu halten.

Herbert Heinzelmann

Abbildungen: wikimedia.org; Friedl Ulrich / NN-Archiv

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