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Nesthäkchens Leidensweg

ury_portraitHumorvoll, manchmal ein bisschen zu forsch, aber auch sehr großzügig – so eroberte die blondgelockte Romanheldin Annemarie Braun ganze Generationen von Mädchenherzen. Seit dem ersten Erscheinen, vermutlich 1913, galten die Nesthäkchen-Geschichten um die Berliner Arzttochter als Inbegriff der Backfischliteratur. Von der Großmutter über die Tochter bis zur Enkelin wanderten die zehn Bände der Schriftstellerin Else Ury durch die Regale der Kinderzimmer. Manche Nachkriegsleserin erschloss sich dank Nesthäkchen sogar die Frakturschrift aus den frühen Ausgaben des Jugendschriften-Verlags Meidinger.
Selten lernten die Leserinnen (und einige Leser) hingegen etwas über das Schicksal der jüdischen Erfolgsautorin. Erst in den 1990er Jahren erfuhr eine breitere Öffentlichkeit, dass Else Ury 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. In Nürnberg widmete die deutsch-polnische Gesellschaft in Franken der Schriftstellerin vor wenigen Monaten einen Vortragsabend. »Ich wollte schon immer eine Veranstaltung über die Geschichte von Else Ury machen«, sagt Froben Schulz, Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft. Schließlich hat die Berlinerin auch jenseits der Oder ihre Spuren hinterlassen. In dem kleinen polnischen Ort Karpacz, dem ehemals schlesischen Krummhübel, war Schulz ein Haus mit der Aufschrift »Dom Nesthäkchen« aufgefallen. Es war das Ferienhaus am Fuße der Schneekoppe, in dem die Familie Ury viele Urlaube verbracht hatte. 1926 hatte Else Ury das Feriendomizil mit ihren Einnahmen als erfolgreiche Schriftstellerin erworben.
1877 als Tochter eines Tabakfabrikanten geboren, erlebte Else mit ihren drei Geschwistern eine bildungsbürgerliche Kindheit, ähnlich der ihrer späteren Heldin Annemarie Braun. Sie besuchte ein privates Mädchenlyzeum, ihre belesene Mutter führte sie in die Welt der Literatur ein. Eine Berufsausbildung war nach Abschluss der 10. Klasse nicht vorgesehen, der Besuch des Gymnasiums für Mädchen noch nicht möglich. Doch die Schriftstellerei machte Else, die unverheiratet blieb, zur berufstätigen Frau. 1905 erschien ihr erstes Geschichtenbuch »Was das Sonntagskind erlauscht«. 38 Märchenbücher, Erzählungen und Romane für Kinder teils in hohen Auflagen folgten – neben der »Nesthäkchen«-Reihe fünf Bände der Reihe »Professors Zwillinge«. Else Ury wurde berühmt und wohlhabend. Da sie ihre Tantiemen in Goldmark erhielt, konnte sie auch während der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre für sich selbst sorgen und Familienmitglieder unterstützen. Der Verlag Meidinger richtete in seinem Kinderkalender 1929 die Rubrik »Nesthäkchenpost« ein, in der die Schriftstellerin die Fragen ihrer begeisterten Leserinnen beantwortete. Als Benjaminnetje begegnete Annemarie Braun den Leserinnen in Holland, als Benjamine in der Schweiz und in Frankreich. 1936 erschien der erste Annemor-Band in Norwegen.
In Deutschland durfte Else Ury zu dieser Zeit schon nicht mehr veröffentlichen. Am 6. März 1935 hatte die Reichsschrifttumskammer sie ausgeschlossen. Die stets patriotisch gesinnten Urys mussten erleben, wie das eigene Land sie systematisch ausgrenzte und ihrer Rechte beraubte. Familienmitglieder hatten während des Ersten Weltkriegs gedient. Und Else hatte in dem 1916 erschienenen »Nesthäkchen und der Weltkrieg«, in dem sich Annemarie damit müht, feldgraue Socken für die Soldaten an der Front zu stricken, die allgemeine Kriegsbegeisterung aufgegriffen. In »Jugend voraus«, das 1933 als ihr letztes Buch erschien, ist sogar die Hoffnung erkennbar, die neuen Machthaber könnten Deutschland nach schwerer Depression wieder zu alter Stärke zurückführen. Ob derlei Passagen tatsächlich aus der Feder der Autorin stammen oder einer Bearbeitung zuzuschreiben sind, ist bei Ury-Kennern umstritten. Auch wenn die beliebte Autorin nicht mehr veröffentlichen konnte, hatten ihre Bücher – sehr zum Missfallen der Nationalsozialisten – weiterhin ihre Anhänger.
Einige Mitglieder der Familie Ury emigrierten, während in Deutschland die antijüdischen Schikanen zunahmen. Bruder Hans erlebte das Berufsverbot gegen jüdische Ärzte nicht mehr. Er nahm sich 1937 das Leben. Bruder Ludwig verlor seine Zulassung als Anwalt, konnte aber 1939 nach England fliehen. Else Ury besuchte 1938 ihre nach London emigrierten Neffen, doch sie kehrte zurück nach Deutschland, um die seit 1920 verwitwete Mutter nicht im Stich zu lassen. 1939 verbrachten Mutter und Tochter den letzten Sommerurlaub in Krummhübel.
Zwangsverkauf drohte
Schon das Einkaufen erwies sich als schwierig, war doch Juden der Zutritt zu so genannten »arischen« Geschäften verboten. »Mein lieber Junge«, schrieb sie am 17. Juni 1939 an ihren Neffen Klaus in London, »nun bin ich wieder in meinem lieben Nesthäkchen, und es könnte alles so schön sein, wenn nicht… (…) Es ist unsagbar schön hier, aber ich kann diesmal dessen nicht richtig froh werden«, spielte sie auf den drohenden Zwangsverkauf des Feriendomizils an. Vermutlich weil sich kein Käufer für das »Haus Nesthäkchen« fand, fiel es 1941 durch Zwangsenteignung an den Staat.
Nach dem Tod der Mutter 1940 war Else Ury alleine in Berlin. »Tante Elses Briefe, soviel Erregung auch daraus spricht, beweisen doch eine Seelengröße, solch ein Auf-sich-nehmen-Wollen des Schicksals, nur den einen Wunsch, gesund zu bleiben, um uns alle nochmal wiederzusehen«, schrieb Schwester Käthe im November 1941 aus Amsterdam an ihren Sohn Klaus. Versuche der Verwandten, ein Visum für Kuba zu bekommen, scheiterten. Nachrichten flossen nur noch spärlich. In einem der letzten Briefe berichtete Else Ury im September 1942, dass sie ihr Testament gemacht habe. Die Dokumente der Nazi-Bürokratie lassen die letzten Stationen in Else Urys Leben nachverfolgen: Am 6. Januar 1943 musste sie sich in der Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße in Berlin einfinden. Dort erhielt sie die Mitteilung vom Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft und dem Einzug ihres Vermögens. Am 12. Januar wurde sie nach Auschwitz deportiert und vermutlich sofort nach der Ankunft am 13. Januar ermordet. Ein Koffer mit ihrem Namen, der erst 1995 in der Gedenkstätte Auschwitz entdeckt wurde, ist das letzte Zeugnis der Schriftstellerin Else Ury.
Private Aufzeichnungen, Tagebücher oder Fotoalben sind bis auf wenige Briefe verloren gegangen. Beim Else-Ury-Abend der deutsch-polnischen Gesellschaft las die Schauspielerin Tanja Kübler aus einigen Briefen. »Viele waren schockiert«, beschreibt Froben Schulz die Reaktion der Zuhörer. Begeisterte Nesthäkchen-Leserinnen waren gekommen, darunter auch eine junge Frau, die die Bücher von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Annemarie Braun lebte nach dem Krieg weiter. Bereits in den 1950er Jahren erschienen die ersten von mehreren Neuauflagen von neun der zehn Bände. »Nesthäkchen und der Weltkrieg« wurde nicht mehr gedruckt. 1983 lernten die Fernsehzuschauer Annemarie Braun in einer Verfilmung des ZDF kennen. Das Schicksal ihrer Erfinderin war weiterhin kaum Thema. Und die Literaturwissenschaft ließ die als trivial geltende Autorin links liegen.
Inzwischen erzählen einige wenige Bücher, eine Wanderausstellung und verschiedene Diplom- und Seminararbeiten das Leben der Familie Ury. In Berlin erinnern zwei Gedenktafeln an die Schriftstellerin: eine am Familiengrab auf dem Friedhof Weißensee und eine am ehemaligen Wohnhaus in der Kantstraße in Charlottenburg. 1999 erhielt eine kurze Straßenpassage an den S-Bahn-Bögen nahe des Savignyplatzes den Namen Else-Ury-Bogen.
Die Nürnberger Stadtbibliothek verfügt bis heute über Nesthäkchen-Bände und -Hörbücher. Zwar sei die Nachfrage nach dem Klassiker der Mädchenliteratur heute nicht mehr so groß, berichtet Bibliothekar Erich Kriebel. Die Bücher würden aber immer noch vor allem auf Empfehlung aus der Familie gelesen: »Nesthäkchen ist ein Titel, der die Generationen verbindet.«
Annamaria Böckel


Marianne Brentzel : Mir kann doch nichts geschehen …: Das Leben der „Nesthäkchen-Autorin“ Else Ury.
239 Seiten, Edition Ebersbach, 14,80 Euro.
Dokumente der Else Ury-Sonderausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz 1997:
www.ghwk.de/sonderausstellung/ury/else-ury.htm

2 Antworten

  1. Hallo,
    leider ist es ja meistens so, dass nur sehr halbherzig recherchiert wird.
    So leider auch in diesem Fall.
    Es ist ja wohl kaum anzunehmen, dass der Schriftzug “Dom Nesthäkchen”, zumal
    in deutsch und polnisch, seid 1926 an dem ehemaligen Ury- Haus prangt.
    In einer doch sehr aufwendigen Arbeit ist es meinem Partner und mir gelungen,
    den Schriftzug auf dieses interessante Ferienhaus der Ury zu bringen.
    Die Gedenktafel ist Frau Böckel anscheinend nicht aufgefallen, was die ganze Angelegenheit
    nur noch trauriger macht.
    Ferner hatten wir verschiedene Else Ury Ausstellungen in Karpacz und im Museum
    von Gerhart Hauptmann in Agnetendorf zu denen mehr als 30.000 Besucher kamen.
    Schade, dass das so wenig Erwähnung findet.
    Mit freundlichen Grüßen.
    Michael Ebeling aus Hamburg

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