Manchmal habe ich den Eindruck, wir hätten uns festgeklebt. In den Logen der Theater. Im Parkett der Konzerthäuser. Wir, die Grauköpfe, die Silberrücken, die Best-Ager. Oder wie man uns Alte sonst beschmeichelt. Festgeklebt, als seien wir die »Letzte Generation«. In diesem Fall die letzte Generation Kultur. Auch vor den Bilder-Wänden der Museen scheinen wir überrepräsentiert zu sein. Wir legen viele Kilometer zurück, um zu Turner nach München oder Caspar David Friedrich nach Hamburg zu pilgern. Wir Senioren sind es, die dann die Stuhlkreise vor den Exponaten belegen, wenn Kuratoren etwas erklären. Den Rollator haben wir an der Garderobe abgestellt. Die Krücke stützt.
Interessieren sich die Jungen nicht für Kultur? Das könnte Vorurteile bekräftigen, die schon der alte Sokrates im antiken Athen über die Jugend kolportierte: Taugt nichts. Will nur Spaß. Wir dagegen bewahren die Kunst mit den höheren Werten. Ist das wirklich so? Bevor dieser Text gerade entsteht, war ich bei einigen Kulturveranstaltungen. Meine subjektiven Eindrücke: In einer Repertoire-Vorstellung im Schauspielhaus Nürnberg überwogen die Senioren. Bei einer Premiere im Theater Erlangen waren viele Junge. Bei einer anderen Premiere im Gostner Hoftheater fehlten diese. Da kamen manche aus der Gründergeneration dieser privaten Nürnberger Spielstätte. Das Datum liegt 45 Jahre zurück. Erstaunlich durchmischt schien mir das Publikum beim Philharmonischen Konzert mit Mahlers 2. Symphonie in der Meistersingerhalle. Gerade Klassik scheint doch sonst vom Nachwuchs wenig geschätzt zu werden. Der hält sich mehr bei Rock im Park auf. Aber auch dort zeigen sich Pop-Opas zunehmend zäh.
Die Jugend ist neugierig
Genaue Zahlen kennt Ilona Bülow vom Staatstheater Nürnberg. Sie ist dort zuständig für »Audience Development«, also für den Service an den Zuschauern. Und sie hatte tatsächlich relativ frische Umfrageergebnisse parat. Und da ist vor allem die Jugend das auffällige Phänomen. 21 Prozent der Besucher des Staatstheaters sind zwischen 15 und 30 Jahren alt, während diese Altersgruppe nur 11 Prozent der Gesamtbevölkerung in Bayern ausmacht. Da scheint es Neugier zu geben. Und die wird vor allem durch das Abonnement der Schulplatzmiete gefördert. Die heißt nur im Raum von Nürnberg und Fürth so und wurde schon 1949 als preisgünstiges Sonderangebot für die Besucherinnen und Besucher von Lehranstalten ins Leben gerufen. Sie hat sich bewährt. Und hält die Lust aufs Theater offensichtlich auch einige Zeit nach dem Schulabschluss am Köcheln.
Denn in der Alterskohorte zwischen 31 und 45 Jahren sinken die Besucherzahlen in Nürnberg deutlich. In Bayern umfasst sie fast 20 Prozent der Bevölkerung. Ins Theater gehen nur 8,3 Prozent. Es ist also nicht die Jugend, die kulturell schwächelt. Es sind die Menschen, für die Beruf und Familie wichtig werden. Nach dieser Schranke raffen sie sich langsam wieder zu kulturellen Aktivitäten auf. Und kommen irgendwann in der Gruppe an, für die Kultur tatsächlich die größte Rolle spielt, trotzig und trotz möglicher Bewegungseinschränkungen bereit, die Komfortzone vor dem Fernsehgerät immer wieder zu verlassen.
»Unsere größte Interessengruppe ist zwischen 61 und 75 Jahren alt»« sagt Ilona Bülow. 32 Prozent aus diesem Segment (es deckt 20 Prozent der bayerischen Gesamtbevölkerung ab) kommen ins Theater. Das ist eine deutliche Überrepräsentation. Deswegen sieht das Häupter-Meer im Schauspielhaus aus einer der hinteren Reihen so aus wie die Nordsee an einem wolkigen Tag.
Erinnerungen und Pflichtgefühl
Vielleicht sind die Erinnerungen aus den Schulplatzmiete-Zeiten mit all ihren Abenteuern wieder aufgestiegen. Vielleicht pocht ein kulturelles Pflichtgefühl in den betagten Brüsten. Die Neugier auf das, was man ja »Hochkultur« nennt, ist offensichtlich im Alter stark. Und man will das Bühnenstück keineswegs nur als Beiwerk zum Prosecco konsumieren. Man will sich auseinandersetzen. Gerade mit dem, was man vielleicht nicht (mehr) versteht.
Dafür gibt es in Nürnberg das Projekt »Treffpunkt Theater 50plus«. Die Generation, die an ihren Kultur-Bedürfnissen festzukleben scheint, trifft sich an jedem vierten Mittwoch im Monat nachmittags im theaternahen Restaurant »Tinto«, um zu diskutieren und Kaffee zu trinken. »Der Kaffee ist wichtig«, sagt Armin Ulbrich, der derzeit das Projekt leitet. »Denn es geht ja auch um soziale Kommunikation.« Sonst sind Gäste eingeladen – aus Schauspiel, Ballettt, Oper, Technik, sogar Kritik. Auch Kulturreferentin Julia Lehner war schon zu Besuch. Die Gäste erzählen. Die Kaffeetrinker stellen Fragen. Manchmal lassen sie Unmut ab. Da hat doch schon wieder das leidige »Regietheater« zugeschlagen und Verdi sah anders aus als in den 1960er Jahren! Aber Theater ist nun mal lebendig und verändert sich.
»Treffpunkt Theater 50plus« wurde als Gemeinschaftswerk von Seniorenamt und Seniorenrat Nürnberg gegründet. Eigentlich ist es eine Fortsetzung der Schulplatzmiete nach der Familienpause. Theaterbesuch, Theaterdiskurs. Wir Alten lassen uns nicht von Handy und Tiktok verdrängen. Wir hängen an unserer Kultur. Und hoffen, dass die »User« der Neuen Medien eines Tages den Blick vom Display heben und erfahren, wie spannend und überraschend die Welt auf einer Bühne sein kann. Das ist seit 2500 Jahren gelungen. Wir sollten nicht pessimistisch sein und die Enkel einfach ins Theater schleppen.
Text: Herbert Heinzelmann
Foto: wikimedia.org
Information
Treffpunkt Theater 50plus Treffen an jedem vierten Mittwoch im Monat im Restaurant TINTO im DB Museum, Lessingstr. 6, Nürnberg (Aufzug Sandstraße)