Wer kennt das nicht? Man geht in den Keller, um etwas zu holen oder hinunterzubringen. Und dann fällt der Blick auf das Regal mit den geerbten und den ausrangierten Büchern. Und wie so oft zieht man aus einer Reihe irgendein Buch heraus und beginnt darin zu blättern. Es ist in Leinen gebunden, 1929 im August Scherl-Verlag erschienen. Autor ist ein Dr. Th. Wolff. »Der Wettlauf mit der Schildkröte« lautet der Titel, den auch spätere Autoren für ihre Denksport- und Rätselbücher verwendeten. Die Überschrift »Die Kunst des Lullus« fesselt nicht, aber die Unterzeile: »Eine Maschine, die den Faust dichten könnte.« Diese Zeile liest man nicht nur einmal.
Der Mallorquiner Raimundus Lullus wurde 1235 geboren und starb 1315. Und dieser Lullus soll vor über 700 Jahren über das nachgedacht haben, was uns heute bewegt und nicht selten auch in Furcht und Schrecken versetzt: die Künstliche Intelligenz, kurz KI genannt. Lullus, der sich intensiv mit der Logik von Aristoteles befasste, war davon überzeugt, dass sich durch die Verknüpfung und Kreuzung mehrerer Kombinationsreihen von Wörtern und Begriffen schlussendlich der richtige Begriff herauskristallisiere. Und diese schematische Zusammenstellung, so dachte er, müsste doch auch durch eine Maschine darstellbar sein. Der Spanier konstruierte eine solche Apparatur. Wolff schreibt: »Sie bestand in einer Anordnung philosophischer Hauptbegriffe in sieben konzentrischen Kreisen. Und durch Drehung dieser Kreise wurden alle möglichen Kombinationen der Begriffe bewirkt.«
Sogar Päpste interessierten sich dafür
Lullus‘ Erfindung erregte in Gelehrtenkreisen der ganzen Welt ungeheures Aufsehen. Nicht nur Alchimisten, Astrologen und Philosophen befassten sich mit der »ars magna Lulli«, sogar Päpste interessierten sich dafür. Aber schließlich stellte sich doch heraus, dass die Denkmaschine nicht das hielt, was man sich von ihr versprochen hatte. Gleichwohl war damit die Idee nicht gestorben. Philosophen, Mathematiker und Geistliche, wie der Mönch Giordano Bruno, ließ die Lullus’sche Idee nicht los. Selbst Leibnitz, meint Wolff, sei durch die Lullus’sche Kunst zu seiner Erfindung der Rechenmaschine gelangt. Später dann, im 19. Jahrhundert, machte sich die geistige Elite mehr zum Zeitvertreib denn ernsthaft Gedanken über Lullus‘ Kombination der Begriffssymbole.
»Wenn man alle Schriftzeichen zu allen überhaupt möglichen Kombinationen miteinander verknüpft, so muss man auch alle Wörter und möglichen Wortverbindungen und damit schließlich den Inhalt alles Wissens und Denkens aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erhalten«, schreibt Wolff. Dabei dachte man an eine Universalbibliothek. Wie sonst sollte man das alles speichern?! Die Denkmaschine würde alles ausspeien, was menschlicher Geist je gedacht und erschaffen hat. Und die Druckmaschine müsste drucken, drucken, drucken….
Vorahnung von den Möglichkeiten der Algorithmen?
Ungeheure Mengen von Kombinationen Wolff geht von etwa 100 alphabetischen Zeichen inklusive Zahl- und Interpunktionszeichen aus. Und jedes geistige Erzeugnis lasse sich durch Anordnung jener 100 Laut- und Schriftzeichen definieren. Wenn man alle, wirklich alle möglichen Kombinationen der 100 graphischen Zeichen ausnützt, dann müsste »eine ungeheure Menge solcher Buchstabenkombinationen, also Bücher, entstehen. Als Beispiel für ein Buch mit einer Million Lettern führt Wolff den »Faust« an. Selbst alle Bücher, die seit Gutenbergs Erfindung gedruckt wurden, seien nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Menge aller überhaupt möglichen Bücher.
Hatte Wolff vor 100 Jahren bereits eine Vorahnung von den Möglichkeiten der Algorithmen? Vielleicht, aber für das Speichern und Veröffentlichen sah er nur das Buch als geeignetes Medium. Der Umfang einer solchen Bibliothek wäre, schreibt Wolff, ein so ungeheurer, dass sie den Weltraum um die Erde herum bis zu den fernsten Sternen ausfüllen würde. Und mit dieser Wendung der Lullus’schen Idee könnte man Prinzip und Theorie einer Maschine angeben, die selbständig denken und dichten könnte. Eine Denkmaschine. Ähnlich einer Rechenmaschine, die arithmetische Operationen ausführt. Unser PC ist ja auch ein Rechner, der Zahlen in Daten und Wörter verwandelt.
Wolffs Erkenntnis: Die Druckmaschine filtert den ganzen Schwachsinn, den die Denkmaschine produziert, nicht heraus. »Auf Trillionen und Quadrillionen solcher Druckerzeugnisse käme womöglich nur ein einziges lesbares Buch.« Und er meint, es würde Billionen von Jahren dauern, um es herauszufinden. Dass dies einhundert Jahre später in Sekunden gespeichert und gefiltert werden kann, konnte er freilich nicht ahnen. Eine Mechanisierung des Geistes in höchster Vollkommenheit würde diese Maschine darstellen. Und Wolff sieht in seiner Betrachtung durchaus die Gefahr, »dass wir auf jeden Gedanken der Freiheit und Autonomie des menschlichen Geistes verzichten müssen«. Eine Warnung vor fast 100 Jahren.
Text: Günter Dehn
Collage: Wolfgang Gillitzer