Anzeige

Unsere Lesetipps für den Herbst

Jedes jahr kommt eine Vielzahl von Neuerscheinungen auf den Buchmarkt. Wir geben Ihnen Lesetipps. Foto: epd

Warum der Buchtitel »Tanztee« heißt, hat sich mir bis zur letzten Seite nicht erschlossen. Gut, dass es den Untertitel gibt: »Das neue geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 85 Jahre.« Dem ersten literarischen Tagebuch-Hit »Eierlikörtage« (erschienen 2016) hat der inzwischen bekannt gewordene holländische Autor, Bewohner eines Altenheims im Norden von Amsterdam, seine Aufzeichnungen aus dem Jahr 2015 folgen lassen. Noch immer existiert der Club »Alanito – Alt-aber-nicht-tot«, dessen acht Mitglieder nach wie vor bemüht sind, dem Einerlei der Tage im Heim Paroli zu bieten. So richtig beliebt sind sie nicht bei Heimleitung und Mitbewohnern, die unternehmungslustigen, manchmal rebellischen Clubmitglieder. An ihrem Mittagstisch, das haben sie unter anderem beschlossen, darf nicht über Krankheiten und Wehwehchen geklagt werden. Zu meckern und zu beanstanden gibt es noch genug, denn das Leben »draußen«, an dem sie aus der Distanz teilnehmen, bietet reichlich Anlässe. Und in ihrer Altersresidenz, das ist ja klar, ist auch so Manches diskussionswürdig, von den Macken einiger Mitbewohner ganz zu schweigen.

Was den Reiz des Tagebuchs ausmacht, das man übrigens am liebsten in einem Zug lesen würde (sofern man selbst zu den etwas älteren Jahrgängen gehört), ist die kluge Welt-und Selbstbetrachtung, verbunden mit Ironie, Heiterkeit und Betrübnis. Die Mühsal des Alters wird nicht mit Lustigkeit verbrämt, sondern beschrieben, wie sie ist: Oft nur schwer zu ertragen, und deshalb, so Alanito-Clubmitglied, ehemaliger Schuldirektor, Autor und Seniorenstiftbewohner Hendrik Groen, »braucht man echte Freunde, die einem mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen«. Wohl dem, der im Alter solche Freunde hat.

Hendrik Groen, »Tanztee – Das neue geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 85 Jahre« Piper Verlag, ­München, 2017 Taschenbuch 31322 11,00 Euro

Fasziniert von einer ­Fremden
Heiter, unterhaltsam und intelligent – diese Art von Buch wünscht man sich, wenn man die Probleme des Alltags und der Welt ein paar Stunden lang ignorieren möchte. Genau so ist der Roman »Liebe mit zwei Unbekannten« von Antoine Laurain, der inzwischen als Taschenbuch vorliegt. Laurain, Franzose und vielfach übersetzter Autor, erzählt die Geschichte einer verzwickt beginnenden Liebe: Laurent, Inhaber einer kleinen Buchhandlung in Paris, findet eine lila Damenhandtasche, möchte sie eigentlich bei der Polizei abgeben, doch die hat gerade keine Zeit, sich um die Sache zu kümmern. Also nimmt Laurent sie mit nach Hause, sichtet den Inhalt, um einen Hinweis auf die Besitzerin zu finden, was aber nicht gelingt.
Der Inhalt der Tasche fasziniert ihn, er findet zwar keinen Namen, aber unter allerlei anderen Gegenständen ein Notizbuch mit Gedanken der Unbekannten. Diese Frau möchte er kennenlernen. Er beginnt mit seinen zunächst aussichtslos erscheinenden Nachforschungen, und Glück und Zufall kommen ihm zu Hilfe. Laure Valadier, die Gesuchte, erholt sich inzwischen im Krankenhaus von der Hirnblutung, die sie durch einen Überfall vor ihrer Haustür erlitt und bei welcher Gelegenheit der Dieb ihr die Tasche entriss, die er später ohne Geld und Papiere wegwarf. Ihr Freund und Kollege William besucht sie und berichtet, dass ein Unbekannter sich in ihrer Wohnung aufgehalten hat. Es war Laurent, dies sei hier verraten, aber wie und auf welchen Umwegen er Namen und Adresse herausfand, wird der Leser selbst herausfinden, der immer gespannter dem Handlungsverlauf folgt. Klug und mit großer Sympathie für seine Figuren beschreibt der Autor Laurain, wie schlussendlich zwei Menschen zusammenfinden, denen man dies als Leser die ganze Zeit heftig gewünscht hat. Es ist, kurz und bündig gesagt, eine richtig schöne Liebesgeschichte.

Antoine Laurain, »Liebe mit zwei ­Unbekannten«, Knaur-Taschenbuch, Droemer-Knaur-Verlag, München 2016 10,99 Euro

Das Ungeheuer im Kopf
Margaret, die junge amerikanische Bibliothekarin, hat in London einen attraktiven Mann kennengelernt und sich verliebt. John ist höflich, gut erzogen und stammt aus einer konservativen englischen Familie. Die beiden beschließen zu heiraten – und dann das: Als Margaret nach einem kurzem Besuch bei ihrer eigenen Familie nach England zurückkehrt, befindet sich John in einer Klinik. Seine Eltern geben nur zögernd Auskunft über seinen Verbleib und seine Krankheit: »Wir hatten eigentlich gehofft, das wäre endlich vorbei. Seine Mutter findet es höchst unerfreulich«, sagt sein Vater zu Margaret, der Verlobten seines Sohnes.

Sie findet ihn in einer psychiatrischen Klinik, er leidet unter einer schweren Depression – und dies nicht zum ersten Mal, wie sie erfährt. Ob die Krankheit wiederkehrt, fragt sie den behandelnden Arzt. Möglich, aber schwer zu sagen, lautet die Antwort. »Stabile Verhältnisse, eine Familie – das kann helfen.« – Und so gehen sie das Wagnis ein, heiraten, bekommen zwei Kinder, Michael und Celia, und würden gern in London bleiben, doch Johns Firma schickt ihn nach Boston. Sie lagern die Möbel ein und ziehen an die amerikanische Ostküste. Dort wird Alec geboren, ihr Jüngster. Das ist die Basis der Geschichte, die nun folgt. Die Jahre werden unruhig, Johns Geschäfte im Finanzsektor entwickeln sich nicht wie erwartet, die Familie zieht zurück nach London, wo eine Rezession alle beruflichen Pläne zunichte macht. So geht es wieder zurück in die USA, nach Walcott in der Nähe von Boston. Hier scheitert John ein weiteres Mal, und die Depression, lange verschwunden, packt ihn erneut.

»Das Ungeheuer im Kopf«, wie er es nennt, hat sich auch an seinen Sohn herangemacht. Michael hat die Krankheit seines Vaters geerbt. Er ist klug, doch von Ängsten und Obsessionen getrieben, was er mit Therapien und Tabletten zu bekämpfen versucht. Seine Weltsicht ist verstörend. Der Leser ist irritiert von seinen verzweifelten Schuldgefühlen und seiner ungezügelten Phantasie – und wechselt erleichtert immer wieder mit dem Autor die Spur, denn alle Familienmitglieder sprechen mit eigener Stimme. Sie kämpfen mit ihren eigenen Schwierigkeiten und Nöten. Margaret, die schließlich früh zur Witwe wird, mit der Sorge um ihre Kinder, ihren Geldnöten. Celia und Alec mit ihren persönlichen Beziehungen, doch alle stets vereint in ihrer Sorge und ihrem Bemühen um Michael, diesen schwierigen Sohn und Bruder, der stets zu scheitern droht. Dessen Tablettenkonsum ist in furchterregende Höhen geschnellt. So kommt die Familie gemeinsam zu dem Entschluss, dass nur ein Entzugsprogramm helfen kann, zu dem sich Alec und Michael auf ein einsames Inselchen zurückziehen will. Mit fatalen Folgen. »Stellt euch vor, ich bin fort« ist ein grandioser Roman von Adam Haslett, einem amerikanischen Autor, der es in seinem Heimatland zu verdienter Anerkennung gebracht hat. Seine »Familien- und Liebesgeschichte«, wie er es nennt, umfasst einen Zeitraum von vier Jahrzehnten, ist aus der Multiperspektive der handelnden Personen erzählt und sehr gut lesbar. Manchmal sind Michaels fanatische Auslassungen vielleicht etwas mühsam, doch insgesamt ist das Buch berührend, packend und aus einem Guss.

Adam Haslett, »Stellt euch vor, ich bin fort« Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018 22,95 Euro

Bissige Frankenverse
Biller-Fans wird‘s freuen: Der nimmermüde fränkische Poet und Wanderer hat ein neues Buch veröffentlicht. »Spurensuche mit Burgblick« ist der Titel des Werks, das wiederum künstlerisch treffend von Manfred Schaller, dem langjährigen Mitgestalter der Biller-Bücher, illustriert wird, diesmal erweitert mit zum Text passenden Fotos. Neu auch, dass es diesmal nicht allein die melancholisch-bissigen Verse sind, mit denen sich der Autor mit allem Geschehen in Stadt und Land befasst, sondern auch Prosa-Texte, die den Leser unter anderem mit dem Biller‘schen Lebenslauf bekannt machen. Dass dies im gewohnten Tonfall geschieht, ist Ehrensache: eine gelungene Mischung aus hochdeutscher Exaktheit und fränkischer Lautmalerei. Wer als Leser Konrad Biller mit Vergnügen auf seinen Spaziergängen und Wanderungen (und bei seinen Innenansichten) begleiten möchte, bekommt ganz unversehens einen neuen – zuweilen recht boshaften – Blick auf die fränkische Welt.

Konrad Biller, ­»Spurensuche mit Burgblick« Fahner-Verlag, Lauf a.d. Pegnitz 2018, 12,80 Euro
oder im Schuber: »3 x In und Drumherum … Was daheim war und ist« (zus. mit zwei bereits früher erschienenen Werken), 25 Euro

Alle Buchtipps von Brigitte Lemberger

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Skip to content