Für einen Moment hielt die Welt den Atem an, als sich der Südafrikaner Oscar Pistorius bei den Olympischen Spielen in London an den Halbfinal-Start über die 400-Meter-Distanz begab. Pistorius, bekannt als „der schnellste Mann ohne Beine“ oder als „der Blade-Runner“ wegen seiner hakenförmigen Unterschenkel- und Fußprothesen. Der Sportler ist dreimaliger Paralympics-Sieger, und eben auch bei den Olympischen Sommerspielen in London war er startberechtigt – als erster beidseitig amputierter Mensch. Ein Behinderter auf speziell für ihn angefertigten Carbon-Prothesen maß sich mit Nicht-Behinderten.
Inge Enzmann aus Eckenhaid im Kreis Erlangen-Höchstadt blieb der Wettkampf mit Nichtbehinderten immer verwehrt. Die Behindertensportlerin tritt bei den Paralympics in Seoul 1988 als Bogenschützin an. Sie holt für Deutschland die Silbermedaille. Enzmann ist im unfassbaren Glück: „Ich habe Rotz und Wasser geheult“, sagt sie, rollt schwungvoll zu einer Vitrine, kramt die Trophäe heraus und hängt sie dem Besuch testweise um. „Damit Sie mal wissen, wie sich das anfühlt.“ Seit einem Rückenleiden Mitte der 80-er Jahre sitzt Enzmann, heute 67 Jahre alt, im Rollstuhl. Dem Silber bei den Paralympics in Seoul folgten zahlreiche zweite und dritte Plätze bei Europameisterschaften sowie Siege bei Deutschen und Bayerischen Meisterschaften – aber eben immer im Behindertensport. Im sogenannten Compound-Bogenschießen hält sie seit dem Jahr 2003 den deutschen Rekord. Noch vor sechs Jahren stand sie auf Platz drei der Weltrangliste in dieser Sportart. „In die Nationalmannschaft wurde ich aber nicht berufen. Man hat mich nicht genommen, weil ich angeblich zu alt bin“, sagt die Ausnahmesportlerin.
Die mentale Stärke, die sie in den Sportwettbewerben gezeigt hat, mag ihr auch die Kraft für den Alltag verliehen haben. Dass sie im „Rolli“ sitzt, ist für sie längst abgehakt. Stattdessen scherzt sie: „Mir tun beim Anstehen nie die Füße weh“. Um einen flotten Spruch scheint sie nie verlegen und hat für fast jede Situation einen Aphorismus parat. „Wenn man sich gehen lässt, fällt man runter“, sagt sie. Oder: „Wer aufgibt, hat verloren.“
Begeisterte Reiterin
Bis zu ihrer Bandscheibenoperation im Jahr 1981 spielte die gelernte Drogistin Handball und war begeisterte Reiterin. Doch auch nachdem sie im Rollstuhl gelandet war, wollte sie weiter Sport treiben. Sie entschied sich für Pfeil und Bogen in der Kategorie „Rollstuhlsport“. „Bogenschießen geht nur, wenn Sie Ihre innere Ruhe finden“, weiß Enzmann. Heute verfügt sie über alle Trainerlizenzen des Deutschen Schützenbundes für den Nichtbehindertensport, trainiert den Bayern-Kader im Behindertensport und sorgt beim Nachwuchs des Bogensportvereins Erlangen für Ziel- und Treffsicherheit. Sie tippt am PC Trainingsberichte, kümmert sich um Neuanmeldungen („Wir haben Zulauf ohne Ende“), erstellt Listen für Wettbewerbe. Sie schätzt diesen Sport, man lerne „auf Kommando runterzukommen und abzuschalten“. „Auch Zappelkinder werden ruhig“, sagt Inge Enzmann und verrät ihr Erfolgsgeheimnis: „Was ich einem Kind gebe, bekomme ich zigfach zurück – je mehr Liebe man gibt, desto mehr bekommt man zurück.“ Sie kenne keinen anderen Sport, in dem Groß und Klein, Alt und Jung zur gleichen Zeit auf dem Platz trainieren – zwar mit unterschiedlichen Distanzen und Zielscheiben, aber immer auf Augenhöhe.
Rücksicht und Vorsicht
Die Kinder vertrauen ihrer „Bogenschieß-Oma“ voll und ganz – und sie den Kindern. Die müssten sich allerdings an ein paar Regeln halten, betont die Respektsperson Inge Enzmann und wird plötzlich ganz ernst: „Kinder dürfen nicht die Hände in die Hosentaschen stecken, das Handy wird ausgemacht und Fäkalausdrücke sind verboten.“ Sie will Dinge hochhalten, die aus ihrer Sicht an Wert verlieren – Rücksicht, Nachsicht, Vorsicht, Übersicht.
Trotz ihrer Behinderung scheint die Lebensfreude Enzmann nie verlassen zu haben. Ungehalten wird sie aber, wenn an Hauseingängen „komische Rampen für Rollstuhlfahrer“ gebaut werden, die sich als unpraktikabel erweisen. Dann kämpft sie, bis der Mangel behoben ist.
Sie nimmt noch einen Schluck vom starken Kaffee und rollt in ihren geräumigen Garten. Vorbei an einem Teich voller kleiner bunter Koi-Karpfen, vorbei an selbstgezüchteten Tagetes-Blumen, hin zum Bamberger Hörnchen-Feld. „Meine selbst angebauten Kartoffeln reichen fast das ganze Jahr“, berichtet sie. Und sie jätet gerne Unkraut. Wie das bei ihr geht? „Na, auf allen Vieren.“
Ilona Hörath