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Widerstand als Lebenselexier

Der Mann ist 93 Jahre alt. Doch er hat das Feuer und die Leidenschaft seiner Jugend nicht verloren. Stéphane Hessel setzt sich mit aller Kraft für eine bessere Welt, eine Zukunft in Frieden und Freiheit ein. Mit seinen zwei jüngst erschienenen Streitschriften »Empört Euch« und »Engagiert Euch« hat er es nicht nur in den Bestsellerlisten ganz nach vorne geschafft. Er hat auch eine Diskussion über bürgerschaftliches Engagement entfacht.
Die hohen Ideale, für die er kämpft, heißen Gerechtigkeit, Demokratie und Brüderlichkeit. Damit sie zur Geltung kommen, davon ist Hessel überzeugt, muss sich der Mensch gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung wehren. Empörung ist für ihn nur der Anfang: Danach muss unbedingt der aktive Einsatz folgen.
Hessel ist eine moralische Autorität. 1917 in Berlin als Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel und der protestantischen Journalistin Helen Grund geboren, ging er als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Frankreich. 1937 wurde er französischer Staatsbürger, im Zweiten Weltkrieg war er aktives Mitglied der Résistance, der französischen Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten. Hessel überlebte mehrere Konzentrationslager indem er unter dramatischen Umständen die Identität eines Verstorbenen annahm und mehrfach fliehen konnte. Ab Oktober 1945 war er Frankreichs Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York, 1948 einer der Autoren und Mitunterzeichner der UN-Menschenrechtscharta.
Bestärkt durch diese historische Erfahrung, ruft Hessel die Menschen dazu auf, sich nicht mit den gegenwärtigen Zuständen abzufinden, in denen es allzu vielen schlecht geht, in denen Armut und Not grassieren. Dem Autor geht es darum, ein engagiertes Leben zu führen. Kein Gott, kein Staat, kein Politiker oder Gelehrter könne dem Einzelnen die Verantwortung abnehmen. Jeder sei verpflichtet, sich um das Gemeinwohl zu kümmern.
Und warum empört und engagiert Hessel sich heute, wo doch in Europa Frieden herrscht? Gründe findet er genug. Die Abschiebung von Sinti und Roma aus Frankreich, der immer größer werdende Abstand zwischen Arm und Reich, gekürzte Sozialleistungen, die brüchig gewordene Sicherung des Alters, ein Bildungssystem, das Kinder aus wohlhabenden Familien privilegiert: Hessel sieht das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften in Frage gestellt. Er fühlt sich berufen, die Werte zu verteidigen, für die er einst sein Leben einsetzte. In seiner Streitschrift »Empört Euch!« erregt er sich über die Exzesse des Finanzkapitalismus, die Umweltzerstörung, die Politik Israels im Gaza-Streifen.
In »Engagiert Euch!« betont Hessel, dass gute Absichten nicht ausreichen: »Es genügt nicht, sich nur zu entrüsten. Macht euch klar, was euch stört und empört, und dann versucht herauszufinden, was ihr konkret dagegen unternehmen könnt.« Das neue Werk ist ein Gespräch mit dem jungen Öko-Aktivisten Gilles Vanderpooten (Jahrgang 1985). Entsprechend bilden Umweltschutz und Nachhaltigkeit die Hauptthemen. Hessel erläutert seinem jungen Freund, dass der Kampf gegen die Umweltzerstörung die Möglichkeit biete, sich persönlich einzusetzen und direkt etwas zu erreichen.
Es ist dieser Geist der Offenheit, der ihn so beliebt macht, der dafür sorgt, dass ihn Studenten in Paris respektvoll grüßen und für sein Werk loben. Er schreibt den neuen Generationen nichts vor – er will ihnen etwas von der Flamme schenken, die in ihm lodert.
Seine Vorbilder: Mandela und Luther King
Das Schlimmste ist für ihn Gleichgültigkeit. Hessel will die Menschen aus ihrer Lethargie reißen. Sie sollen ihre Wut als Lebenselixier entdecken, um sie dann produktiv – nicht zerstörerisch – einzusetzen. Als Vorbilder nennt er Nelson Mandela und Martin Luther King.
Weit über Frankreich hinaus finden die beiden Streitschriften Beachtung. Hessel wird mittlerweile international gelesen und diskutiert, die jungen Leute, die in Spanien Plätze besetzen, die für Jobs, Wohnungen und eine Zukunft kämpfen, haben sich von ihm inspirieren lassen und nennen sich »die Empörten«. Auch im verarmten Griechenland ist seine Botschaft angekommen, auch dort machen jugendliche »Empörte« von sich Reden. In 22 Sprachen wurde »Empört Euch!« bereits übersetzt.
Auch in Deutschland stand Hessel auf den Beststellerlisten. Einer, der seine Bücher gelesen hat, ist Hans-Günther Schramm (69) aus Nürnberg. Der langjährige Friedensaktivist und Mitbegründer des Nürnberger Evangelischen Forums für den Frieden, der für die Grünen im Landtag saß, fehlt bis heute auf keinem Ostermarsch. »Ich finde Hessels Buch wichtig, mir gefällt, dass er nicht resigniert, sondern ein Empörungsfeuer entfacht und mit dem Herzen und voller Überzeugung dabei ist. Seiner Idee, Anstöße zu geben, folge ich aber nicht ganz«, betont Schramm. Er selbst möchte keinen Impuls an die Jugend aussenden, sondern dem Nachwuchs eher beratend zur Seite stehen. »Die Aufgabe von uns Älteren sehe ich darin, da zu sein, wenn die jungen Leute sagen: ›Wir wollen eine Demo organisieren –was müssen wir alles beachten?‹«
Dabei zeigt sich der Nürnberger mit dem charakteristischen weißen Bart ebenso offen für Neues wie der Franzose. »Ich habe immer noch Lust zu experimentieren«, sagt Schramm schmunzelnd. »Etwas mehr Phantasie wäre gut, besonders bei der Herstellung von Flugblättern. Oder wir wählen für den traditionellen Ostermarsch mal einen neuen Ort, die Abschlusskundgebung muss ja nicht immer vor der Lorenzkirche sein. Da können die Jüngeren prima ihre Ideen einbringen.« Ihn beeindruckt, dass der Nachwuchs moderne Kanäle wie Internet, Facebook oder Twitter nutzt: »Sie werben mit anderen Mitteln für unsere Ziele des Friedens, das gefällt mir.« Deshalb kann Schramm es auch nicht verstehen, wenn auf »die unpolitische, desinteressierte Jugend« geschimpft wird. Er trifft immer wieder auf junge Leute, die aktiv werden wollen.
Karina Thielicke-Eichhorn (62), die schon seit 1986 bei der Vereinigung »Mütter gegen Atomkraft« mitmacht, weil die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sie damals so schockte, freut sich ebenfalls über Hessels Werke. »Ganz eindrückliche Schriften, die einem interessante neue Anregungen geben«, urteilt sie.
Gegen die Macht der Banken
»Sein Optimismus, dass er den Nichtregierungsorganisationen eine erfolgreiche Zukunft voraussagt, gefällt mir.« Was Hessel über die große Macht der Banken schreibt, vergleicht sie mit den Strukturen der Energiekonzerne: »Sich gegen das Ohnmachtsgefühl zu wappnen, dass man nichts tun könnte, ist immer gut. Und das erreichen Hessels Worte.« Ihre Kinder hätten über das Internet von Hessels spätem schriftstellerischem Erfolg erfahren und fänden das spannend. »Ich lese Hessel jedenfalls so, dass es nichts bringt, nur zahlendes Mitglied zu sein, sondern dass man sich schon selbst in seiner Stadt bewegen muss.«
Horst W. Blome (73), der Schauspieler, Kabarettist und Sprecherzieher in Nürnberg, der vielen einfällt, wenn es um das Thema der 68-er-Generation geht, klopft Hessels Werk theoretisch ab. Nein, ein Marxist sei er nicht, er analysiere nicht groß die Gegenwart – und angeregt habe er die neuen Bewegungen auch nicht, findet Blome. Seiner Beobachtung nach träten bürgerlich empörte Bewegungen, für die Hessel hier spreche, immer wieder auf. Trotzdem hält Blome es für wichtig, was der Franzose schreibt, und für respektabel, dies in seinem stolzen Alter zu tun. Hierin stimmen alle fränkischen »Empörten und Engagierten« überein.
Claudia Schuller

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