Hier finden Sie eine Auswahl von Büchern, die unsere Rezensentin Claudine Stauber zusammengestellt hat. Ideal für den Gabentisch, zum Schmökern oder einfach nur zum Nachdenken.
Ein Kinderzimmer als Kulisse
Es hat so gar nichts Voyeuristisches, wenn Fernando Aramburu von einem schrecklichen Unglück erzählt, das tatsächlich geschehen ist und 1980 ein ganzes Dorf im Baskenland erschüttert hat. Seine geradlinige, schmucklose Erzählkunst lässt das Drama aus unterschiedlichen Perspektiven in den seelischen Innenräumen einer betroffenen Familie kondensieren. Da sind die Eltern von Nuco, eines der ums Leben gekommenen Kinder, und Großvater Nicasio, der den tragischen Tod des Enkels nicht akzeptieren will. Mutter Mariaje tritt als Ich-Erzählerin auf, der Autor kommt zu Wort, und dann gibt es noch einen überraschenden dritten Part. Doch dazu später mehr.
Was ist passiert? Eine Schule wurde durch eine gewaltige Propangas-Explosion zerstört, 50 Kinder und drei Erwachsene kamen dabei ums Leben, darunter der sechsjährige Nuco. Seither geht der alte Nicasio jeden Donnerstag zu Nucos Nische am Friedhof und führt lange Gespräche mit dem toten Kind. »Wenn er könnte, wenn man ihn ließe, würde er auf dem Friedhof neben der Mauer mit den Grabnischen in einem Zelt kampieren.«
Während sich der Alte am Verlorenen festkrallt, werden sich Nucos trauernde Eltern nach und nach immer fremder: Der Vater will vergessen und nach vorne schauen, Mutter Mariaje dagegen steckt fest in ihrem Leid, wehrt den Trost ab, den ihr unbeholfener Mann anbietet: »Fehlte nur noch, dass er mir mein Leid mit einem Löffel aus dem Körper kratzte und es aufaß.« Er will wieder ein Kind, sie nicht. Als Nucos Kinderzimmer leergeräumt werden soll, lässt der sture Großvater sämtliche Sachen in seine Wohnung bringen und baut alles originalgetreu bei sich auf. Ein wunderbares Szenario, mit dem Aramburu die beharrliche Realitätsverweigerung des Alten illustriert.
Irritierend und gewöhnungsbedürftig ist dagegen jener Dritte, der im Buch mitmischt. Es ist der Text selbst, der sich zwischendurch zum Zensor aufschwingt und kommentiert, was der Autor so zusammenbraut. Nicht immer ist der Text damit zufrieden: »… das macht mich wehrlos gegen Fehler und mangelndes Talent meines Verfassers.« Davon, das freilich ist sicher, kann bei Fernando Aramburu keine Rede sein.
»Der Junge«, Fernando Aramburu, Hamburg 2025, Rowohlt Verlag, 25 Euro
Die Achse des Öls
Man kann es halten wie die Amerikaner und Kohlendioxid einfach nicht mehr als Schadstoff einstufen. Oder wie die bayerische Staatsregierung, die den verpflichtenden jährlichen Klimabericht gerade abgeschafft hat. Man kann aber auch den Kopf endlich aus dem Sand ziehen, zu Christian Stöckers Buch »Männer, die die Welt verbrennen« greifen und erfahren, welche Kräfte die Sucht nach fossilen Brennstoffen immer weiter anheizen und warum sie das tun. Zugegeben, das macht Mühe, denn der Spiegel-Kolumnist und Hochschulprofessor liefert (in der gerade aktualisierten Taschenbuchausgabe) auf 352 Seiten massenhaft Daten, Fakten und Beweise; er legt die Netzwerke akribisch offen, die weltweit mit Desinformation und politischer Einflussnahme erfolgreich sind und den gesellschaftlichen Diskurs mit einer toxischen Mischung aus Klimaleugnung, Rassismus und Frauenfeindlichkeit vom Wesentlichen ablenken. So löst etwa die Gender-Debatte oft mehr Erregung aus als Nachrichten über tauenden Permafrost und näher rückende Kipp-Punkte. Stöcker selbst sagt, seine Befunde klängen oft wie eine Verschwörungserzählung. Wohl wahr, doch leider, das gilt heute fatalerweise mehr denn je, ist das Ausbremsen des Klimaschutzes bedrückende Realität.
Drei Milliarden Dollar am Tag verdienen Shell, BP und Konsorten inflationsbereinigt seit 1970 mit Öl und Gas, so eine von Stöcker zitierte Studie von 2022. Es sei eine kleine Gruppe von extrem reichen und enorm mächtigen Männern, die aus reiner Profitgier daran arbeite, den Planeten mit noch mehr fossilen Brennstoffen zugrunde zu richten. Politiker, Lobbyisten, Medienunternehmen wie die Bild-Zeitung und Think Tanks lässt der Autor als Helfershelfer auftreten. Zum Beispiel FDP und CDU, die 2023 das Heizungsgesetz »unschädlich« machten oder die schwarz-rote Koalition, die 2011 den Boom der preisgünstigen erneuerbaren Energien durch gekürzte Vergütungen abgewürgt hat.
»Es wird höchste Zeit, die Männer, die die Welt verbrennen, in ihre Schranken zu weisen«, lautet Stöckers Schlusssatz. Wie genau das funktionieren soll, bleibt allerdings offen. Das Fundament dafür hat er mit seinem kenntnisreichen Buch immerhin gelegt.
»Männer, die die Welt verbrennen«, Christian Stöcker, Berlin 2025, Ullstein Verlag, 14,90 Euro
Harmlose Renitenz
Männer sind Randfiguren, nicht mehr als unvermeidliche Statisten im Frauenleben, aber keine Quelle von Glück. Das Patriarchat, in den 1950er und 60er Jahren noch wenig in Frage gestellt, ist Thema der dänischen Autorin Tove Ditlevsen, die fast 50 Jahre nach ihrem Freitod im deutschen Sprachraum eine literarische Renaissance erfährt. 15 Kurzgeschichten in dem Band »Böses Glück« machen deutlich, wie gut sie das literarische Skalpell führt und stille Ehe-Katastrophen und gescheiterte weibliche Ambitionen mit kalten Schnitten bloßlegt. Unter den glattgestrichenen Spitzendeckchen all dieser Arbeiter- und Kleinbürgerhaushalte liegen Alpträume, die manche trendigen »Tradwifes«, die das Hausfrauendasein plötzlich wieder supercool finden, auch heute noch einholen dürften.
Da sind Egon und Helga, die eine trostlose Ehe eingehen, die bereits trostlos beginnt: Nach dem Antrittsbesuch bei der Familie und dem obligatorischen Verlobungsring »nahm er sein Eigentum auf dem Schlafsofa seines gemieteten Zimmers in Besitz (…) jetzt war ihr Weg endgültig abgesteckt«. Helga legt sich »ein sanftes, entschuldigendes Wesen zu«, aber sie entwickelt die fixe Idee von etwas Eigenem, das nur ihr gehört. Es ist ein eleganter Regenschirm, den sie sich vom Munde abspart – und den er sofort voller Wut entzweibricht. Der Verstoß gegen ein geheimes Gesetz ist geahndet, die Frau fügt sich und ihre scheinbar harmlose Renitenz hat ein Ende.
Der Kampf um eine zugelaufene Katze, die er hasst und sie liebt, eine Mutter, die im Karneval eine kurze Revolte als Königin der Nacht wagt und ihre Tochter mit diesem Traum infiziert, das sind Miniaturen, die Tove Ditlevsen mit hauchdünnen Pinselstrichen zeichnet. Als gingen kurz die Scheinwerfer an in all den einfachen Wohn- und Schlafzimmern und beleuchteten verhaltene Angst und tiefe Resignation schlaglichtartig. Nur in der letzten, der fürs Buch namensgebenden Story, gelingt der Ich-Erzählerin die Flucht. Sie vergisst ihr Zuhause und lebt ihr eigenes Leben. Sie schreibt.
»Böses Glück«, Tove Ditlevsen, Berlin 2023, Aufbau Verlag, 20 Euro
Sohn sein kann die Hölle sein
»Da überlebt man, und das ist der Dank!« Ein Satz wie ein Faustschlag. Charlotte, eine Frau, die fast ihre gesamte Familie im Holocaust verloren hat, sagt ihn oft zu Michel, ihrem einzigen Sohn. Der Arme muss alles sein für sie, ob er will oder nicht: Ersatz für den früh verstorbenen Partner und Angeklagter, der bei Bedarf schuld ist an ihrem »Scheißleben«. Was für eine Hypothek, und doch ist es Mutterliebe, wie Michel Bergmann Jahre nach ihrem Tod feststellt. Eine fordernde, gnadenlose, eine toxische Liebe, mit der ihn seine jiddische »Mame« ein Leben lang verfolgt.
Wir lesen davon mit Schaudern und Traurigkeit, aber auch dankbar für den wunderbaren Humor, mit dem der erst im Juni dieses Jahres verstorbene Autor Charlottes – und letztendlich auch sein eigenes – Lebensdrama entfaltet.
Sie wurde 1916 im fränkischen Zirndorf geboren, von wo die Gymnasiastin 1933 nach Paris und später in die grausame Welt der Vernichtungsager vertrieben wurde. »Mir dürfen fei nimmer mit dir spielen«, sagen die Freundinnen der 17-Jährigen zuvor beim Völkerballspiel, »weilst a Jüdin bist.« Auch die Werke ihres berühmten Onkels Jakob Wassermann sind da bereits verboten worden.
Zirndorf kommt nicht gut weg in dem Buch. Bergmann zitiert beschämend Antisemitisches aus Akten der US-Behörden, ein später Wiedergutmachungsbesuch des Autors in der Stadt, 50 Jahre nach Kriegsende, wird zum Desaster. Das Elternhaus seiner Mutter darf er ebensowenig besuchen wie die ehemalige Synagoge, die inzwischen eine Praxis beherbergt. Bergmann lässt Zirndorf »voll verbitterter Wut« hinter sich. Seine Mame hat ihren Geburtsort, der sie einst ausgestoßen hat, nie wieder betreten.
Der Sohn dieser gleichermaßen lebensfrohen wie verbitterten Frau, der für sie auch mit 50 immer noch der kleine, dickliche Junge ist, hat es lange Zeit schwer. Für sie bleibt Michel eine Enttäuschung, auch wenn sie ihn bei anderen stolz zum Genie erhebt.
Bergmann seziert in »Mameleben« nicht nur die verquere Beziehung zu seiner Mutter so präzise wie selbstironisch; er beschreibt auch seine späte Emanzipation aus dem emotionalen Gefängnis, in das sie ihn gesteckt hat. Auch Charlotte gelingt nach vielen bleiernen Jahren die Flucht, auf ihre Weise.
»Mameleben oder das gestohlene Glück«, Michel Bergmann, Zürich 2024, Diogenes Verlag, Paperback 14 Euro
Alle Buchempfehlungen: Claudine Stauber




