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Pflegekinder brauchen Zuneigung und Regeln

Christina Fix hat derzeit vier Jungs zwischen sechs und zwölf bei sich aufgenommen.

Nach 16 Jahren sagen fast 90 Kinder Mama zu ihr. Klingt nach einem biologischen Wunder, ist aber keines, denn eigentlich hat Christina Fix nur ein leibliches Kind, ihre inzwischen 21-jährige Tochter. Die ist allerdings verantwortlich, dass ihre Mutter mit 49 Jahren begonnen hat, Kindersegen von außen ins Haus zu holen. Die Tochter hatte sich Geschwister gewünscht, eigene Kinder konnte ihre Mutter nicht mehr bekommen, eine Adoption wurde ihr versagt. Also wandte sie sich ans Jugendamt, und nach Standard-Checks, Gesprächen und Seminaren begann das Abenteuer Pflege-Familie.

Davon träumen viele Menschen, auch ältere, deren eigene Kinder aus dem Haus sind. Christine Hofmann vom Nürnberger Jugendamt nennt drei Hauptmotive: Paare mit unerfülltem Kinderwunsch, besonders sozial engagierte Menschen und »Familien mit ein, zwei oder drei Kindern, die irgendwann feststellen, wir hätten noch Platz. Aus dieser Gruppe wachsen oft Menschen heraus, die zu kampferprobten Pflegeeltern werden, die das zur Lebensaufgabe gemacht haben bis zum Lebensende.« Wie eben Christina Fix.

Pflegeeltern erwartet kein Kuschelzoo

Kampferprobt klingt zunächst etwas martialisch. Menschen, die mit dem Gedanken spielen, sich auf diese tägliche Herausforderung einzulassen, sollten ihre Kraftreserven und Kämpferherzen aber wirklich genau unter die Lupe nehmen, denn sie erwartet kein Kuschelzoo. Nicht wenige Kinder stammen aus zerrütteten Familien, wurden geschlagen, missbraucht, sind verwahrlost, verdreckt, verstummt, ängstlich und psychisch labil.

Wie begegnet man diesen kindlichen Kollateralschäden der Gesellschaft? Am besten mit starken Nerven und einer Mischung aus Empathie und Struktur. Christina Fix ist zierlich, aber sicher eine starke Frau. Ihre Biografie zeigt, dass sie sich durchbeißen kann: 1981 ist sie zu einem Verwandtenbesuch aus Polen nach Deutschland gekommen. Und dort geblieben, nachdem Lech Wałęsas Solidarność-Bewegung die Regierung auf den Plan gerufen hatte, die mit Kriegsrecht und Panzern reagierte. In Krakau hatte sie Maschinenbau studiert, hier als Technikerin und Prokuristin gearbeitet, nebenbei mit ihrem Mann, dem Inhaber einer kleinen Baufirma, ein altes Haus umgebaut, später ein Reihenhaus im Süden Nürnbergs eingerichtet.

Reden ist Trumpf

Beim Hausbesuch zeigt sich schnell, was Struktur heißt. Vier Jungs zwischen sechs und zwölf und zwei Mischlingshunde, die als Beschützer mithelfen, dass das tägliche Abenteuer für alle Beteiligten gut ausgeht, sind Teil der Familie. Alles ist an seinem Platz, jeder hat seinen Platz. Wenn Christina spricht, spricht sie dezent, aber bestimmt. Sie erklärt viel, die Jungs, die ja nicht gerade in einem einfachen Alter sind, hören zu. Von keinem ein lautes Wort. »Wir leben in einer Herde«, sagt sie lächelnd, »irgendjemand muss der Boss sein«. Schimpfen ist erlaubt, ausflippen nicht. Die Ruhe bewahren, heißt ihr Motto, selbst wenn ein Kind anfangs notorisch lügt, »weil halt der Überlebensinstinkt sehr ausgeprägt ist. Man muss immer verzeihen können«. Medikamente zum Ruhigstellen lehnt sie generell ab, Gespräche sind das Heilmittel. Und bei Härtefällen hilft die vom Amt bezahlte Therapeutin.

Gemacht hat sie alles, von der Bereitschafts- über die Kurz- bis zur Langzeitpflege. Ab wann ist eine Frau bereit für Pflegekinder? Was hält sie für wichtig, abseits der starken Nerven? »Ab 50+, mit eigenen Kindern, viel Lebenserfahrung, Ecken und Kanten, sehr offen und tolerant und bereit, dazuzulernen, denn Erziehung ist nichts für Stehengebliebene.« Und als Warnung an alle Romantiker: »Wenn eine Schmuse-Mami etwas zum Kuscheln braucht, sollte sie sich lieber einen Hund anschaffen.«

Was in dem Kind drin ist, muss erst mal raus

Anruf vom Jugendamt: »Haben Sie Platz?« Wenn sie zusagt, kommt danach schon mal die Polizei und bringt das oder die Kinder. Was folgt, ist immer eine Black Box. Ein sexuell missbrauchter Sechsjähriger hat die ersten zwei Tage nichts gegessen, ein anderer Junge kannte nicht einmal eine Zahnbürste und schon gar keine Tischmanieren. Manche sprechen kein Wort. Kleinkinder aus dem Drogenmilieu haben Entzugserscheinungen und bereiten schlaflose Nächte. »Das Kind muss zu mir kommen. Ich gebe jedem, das kommt, immer erst viel Zeit, das Kind muss sich entladen. Man muss reden und schweigen zugleich können, denn was in ihm drin ist, muss raus«, rät Christina.

Dabei geht es immer um das Wort, das im Gespräch mit ihr oft fällt: Respekt. »Man bekommt ihn, wenn man auch den Kindern Respekt erweist.« Eine klare, offen erklärte Struktur regelt im Hause Fix das Miteinander. Jedes Kind hat ein Handy, abgemacht ist, dass alle immer darüber erreichbar sind und dass die Handys von ihr regelmäßig gecheckt werden dürfen. Das Internet ist ein weiter, wilder Ort. Ab 11 Uhr morgens darf zum Beispiel erst gezockt werden, sie kennt alle einschlägigen Spiele. Immer ist es ein Balanceakt: Vertrauen, Zuneigung, Sicherheit gegen ein uneingeschränktes Ja zur Struktur des Zusammenlebens. Dafür sind die Kinder dankbar, denn gerade diese Struktur und damit Sicherheit haben sie vorher nicht gekannt.

Urlaub gehört für sie dazu

Normalität ist das, was sie den Kindern so geben kann. Dazu gehört ein Familienleben. Mit ihrer Tochter macht sie selbst zweimal im Jahr Urlaub, dann passt ihr Mann auf die Pflegekinder auf: »Ohne passenden Partner kann man das nicht machen.«

Mit Mann, Kind und Pflegekindern fährt sie jedes Jahr an die Adria, und es geht auf Volksfeste, was für eine vielköpfige Familie richtig ins Geld geht. Gegessen wird gut und frisch, alle bekommen das Gleiche. Klamotten und obligatorische Sneaker kauft sie neu. Flohmärkte sind tabu, denn Mode-Mobbing ist allgegenwärtig, ob in der Schule oder bereits auf dem Spielplatz. Wer selbst Kinder hat, weiß, dass man für die Sätze, die das Jugendamt (siehe Infokasten) zahlt, nicht reich wird. Getuschelt wird trotzdem.

Sich die Kinder Fremder ins Haus zu holen, ist für Pflegeeltern oft eine emotionale Gratwanderung. Ebenso für die anderen Mitspieler im komplexen Geflecht ums Kindeswohl: Jugendämter, leibliche Eltern oder gar Gerichte. Nicht immer sind alle einer Meinung. Christina Fix ist für offene Worte und eine eigene Meinung bekannt. Ihre beiden ersten Pfleglinge, ein Geschwisterpaar, waren zwölf beziehungsweise sieben Jahre bei ihr. Dann trat die leibliche Großmutter auf den Plan, es folgte ein herzzerreißender Abschied. Zwei andere »ihrer« Kinder wurden an Ersatzeltern vermittelt, fanden zu ihnen aber keine Bindung. Statt zu ihr zurückzukommen, landeten sie im Heim. Diese Abschiede waren tränenreich und hallen immer noch nach: »Ich bedaure, dass ich mich bei einigen Entscheidungen nicht gegen das Jugendamt durchgesetzt habe.«

Versöhnliche Abschiede, aber auch Tränen

Heikel kann manchmal auch der Umgang mit leiblichen Eltern sein, selbst wenn das nicht die Regel ist. Sie mögen ihr Kind in einer Krisensituation weggegeben haben oder wurden dazu gezwungen, wenn für dieses Gefahr bestand. Aber sie sind immer noch Mütter und Väter und werden vom Kind geliebt. Und irgendwann vermissen manche es. Dazu müssen sie aber bereit sein. Christina Fix nimmt auch hier kein Blatt vor den Mund: »Viele Kinder haben zu lange in der eigenen Familie gelitten. Mütter kriegen ihre zweite Chance, manche Kinder leider nicht.« Es gibt aber auch viele versöhnliche Abschiede, und die machen sie stolz: »Ich weiß, alle werden früher oder später gehen. Aber sie sollen gehen, wenn sie stark und selbstbewusst sind.« Und mit einer Träne im Auge fügt sie hinzu: »Dann habe ich gut abgeschlossen.«

2024 hat Christina Fix von der Nürnberger IT-Firma Ancud einen Preis für ihr Engagement bekommen. »Für Hingabe« steht in der Widmung. Die endet bei ihr wohl nie. 66 ist sie inzwischen, noch lange ist nicht Schluss, denn sie hat einen Traum: ein größeres Haus, mit mehr als den zwei heutigen Extra-Kinderzimmern, um noch mehr Schützlinge aufzunehmen.

Text: Michael Nordschild
Foto: Claus Felix

Informationen

Etwa 4000 Pflegefamilien fehlen bundesweit, schätzt der Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien. Tendenz wie in Nürnberg steigend. Das dortige Jugendamt stützt sich auf 366 Vollzeit-Pflegefamilien. Für 27 Kinder von null bis sieben Jahren, vor allem Jungen, sucht man gerade trotz 23 offenen Pflegestellen akut nach einem Platz.

Aktuell beträgt der Pflegesatz für ein Kind im Alter von null bis fünf Jahren 1060 Euro monatlich, für einen Jugendlichen 1390 Euro. Der Pflegesatz setzt sich aus dem Unterhalt für das Kind und 350 Euro Erziehungsbeitrag für die Pflegeeltern zusammen. Ist der Erziehungsaufwand höher oder hat das Kind eine Behinderung, kann der Erziehungsbeitrag sich mehr als verdoppeln. Wer sich über Voraussetzungen, rechtliche Rahmenbedingungen und Ansprechpartner für Pflegefamilien informieren will, findet hier Informationsmaterial:

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