Vor über einem halben Jahrhundert war Herbert Fenzel ein eifriger Briefmarkensammler – wie seine Eltern auch. Seine Oma riss die Ecken der Briefumschläge mit den Marken aus, der kleine Herbert löste die Postwertzeichen im Wasser ab, trocknete und presste sie – so füllten sich allmählich die Alben. Mit fünf, sechs Jungen aus der Nachbarschaft tauschte er, so wurden die Serien nach und nach vollständig.
Sein Taschengeld investierte der Nürnberger Schüler statt in Süßigkeiten beim Briefmarken-Händler. Und auf Post von der Verwandtschaft aus der DDR war der kleine Herbert ebenfalls gespannt – weniger wegen der mitgeteilten Neuigkeiten als vielmehr wegen der Marken aus Ostdeutschland. Mit der Pubertät verlor sich das philatelistische Interesse: Handball, Geigenspiel und die Freundin wurden wichtiger, die gezackten Schätze verschwanden in der Schublade. Doch die Leidenschaft kehrte zurück. Heute ist Fenzel, 60, sogar Vorsitzender des Philatelisten-Klubs 1891 Nürnberg. Er weiß sein Hobby zu schätzen: »Man kann sich in ein Thema vertiefen, zur Ruhe kommen und erholen. Andere Probleme des Alltags treten zurück«, sagt der in Nürnberg praktizierende Internist.
Doch heute sammelt er – wie auch seine Mitstreiter – ganz anders als in seiner Jugend: Es geht nicht mehr darum, alle deutschen Zehn-Pfennig-Briefmarken seit Gründung der Bundesrepublik zu besitzen – also Serien zu vervollständigen, es geht ihm vielmehr um Themen. So hat sich Fenzel intensiv mit hiesigen Brauereien oder Spielzeug beschäftigt. Seit längerem befasst er sich zudem mit den Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlagern in Nürnberg, für die es teilweise sogar eigene Poststempel gab. Es geht ihm nicht nur um Marken, Stempel und Briefumschläge, sondern auch um den Inhalt: Was erfährt man aus den Schreiben über den Alltag? Denn auch die Beschäftigung mit den Briefinhalten ist ein Teil der Philatelie. So belegen seine Dokumente, dass Zwangsarbeiter unter anderem beim Großkraftwerk Franken, bei AEG und bei der Firma Baumüller, beim Tafelwerk, der Stadtverwaltung und bei der Bahn eingesetzt wurden. Der 60-Jährige geht auf Spurensuche – auf einschlägigen Börsen, Flohmärkten und im Internet. »Es ist spannend und interessant«, berichtet Fenzel, »denn zu diesem Thema gibt es noch keine philatelistische Fachliteratur, ich forsche selbst.«
Themen sammeln liegt im Trend
Genauso machen es die anderen Vereinsmitglieder: Einer sammelt alles über den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, ein anderer über Nürnberger Bleistiftfabriken, ein dritter über Violinen und den Geigenbau. Ein weiterer sei ein »lebendes Lexikon« zur Hyperinflation von 1923. Jeweils am letzten Montag im Monat trifft man sich zum Vereinsabend im Hotel Merkur hinter dem Nürnberger Hauptbahnhof, ein Referent stellt dabei sein Thema und seine bisherigen Ergebnisse vor.
»Als ältester Nürnberger Briefmarkensammler-Verein pflegen wir die Geselligkeit und fachsimpeln über unser Hobby«, erklärt Axel Hiller, zweiter Vorsitzender des Philatelistenclubs 1891 Nürnberg, »Gäste sind immer willkommen.« Die sind auch nötig, denn der Verein hat nurmehr 19 Mitglieder und die meisten sind zwischen 70 und 80 Jahre alt. Vor 30 Jahren gehörten noch über 80 Sammler dem Zusammenschluss an.
Die einstige Exklusivität ist längst Geschichte, Mitglieder der Nürnberger Oberschicht – Rechtsanwälte, Industrielle, Ärzte – trafen sich hier: Früher musste man zwei Bürgen finden und eine Prüfung absolvieren, um in den Verein aufgenommen zu werden. Heute ist ein lebendiges Interesse an der Philatelie und die Freude am Suchen und Forschen vollkommen ausreichend. Doch die geringe Mitgliederzahl sollte nicht zwingend zu dem Schluss führen, dass die Philatelie ein aussterbendes Hobby ist. Viele Sammler sind nicht organisiert, sie wollen keine »Vereinsmeierei«.
Allerdings ist die Zahl der Briefmarkensammler stark rückläufig. Auf Sammlerbörsen kommen nur mehr halb so viele Besucher wie vor 20 Jahren, bedauert Norbert Graf, der seit vier Jahrzehnten derartige Veranstaltungen für Postkarten, Marken und Münzen organisiert. Vor wenigen Jahren ist er dafür von der Nürnberger Meistersingerhalle nach Röthenbach ausgewichen.
Der 71-Jährige spricht von gravierenden Wertverlusten und gibt ein Beispiel: Im Nachlass eines ihm bekannten Briefmarkensammlers fanden sich Rechnungen über 110.000 Mark – allein von offiziellen Versandstellen. Ein Interessierter bot den Erben damals 40.000 Mark für die gesamte Sammlung zu deutschen, österreichischen und Schweizer Marken an – viel zu wenig, befanden die Besitzer. Als sie jetzt erneut einen Verkaufsversuch unternahmen, offerierte man ihnen lediglich noch 5000 Euro.
»Es ist ein gewaltiger Werteverfall im Briefmarkenhandel«, merkt Graf an, »gesucht sind jetzt hauptsächlich noch besondere Stempel, Irrläufer, Raritäten.« Einen schweren Knacks habe es bei der Euro-Umstellung gegeben, betont der Rentner: Sammler hätten ihre postfrischen Briefmarken-Bögen behalten in der Hoffnung auf eine deutliche Wertsteigerung. Das Gegenteil sei jedoch eingetreten.
Auch das renommierte Düsseldorfer Auktionshaus Ulrich Felzmann warnt eindringlich vor übertriebenen Erwartungen. Die Frage »wertvoll oder wertlos« könnten oft nur Experten beantworten, so das Auktionshaus und nimmt als Beispiel die populäre Marke Deutsches Reich, Germania, zehn Pfennig rot. Hier käme es auf Farbnuancen an: Ist die Briefmarke dunkelrot, lebhaftrot, karmin, dunkelkarmin oder dunkelrosarot? Welche Unterschiede weisen Druckart, Wasserzeichen und Zähnung auf? Erst eine genaue Begutachtung könne letztlich Aufschluss geben. Felzmann appelliert daher auf seiner Website an die Eigentümer, »sehr kritisch den Wert Ihrer Briefmarken einzuschätzen. Optimismus ist durch Realismus zu ersetzen.«
Sonderbriefmarken
Jedes Jahr gibt die Deutsche Post AG neben den normalen Marken 52 besonders gestaltete Sonderbriefmarken heraus. Das erste dieser Wertzeichen erschien 1949 zur Eröffnung des ersten deutschen Bundestags in Bonn. Oft haben sie wichtige historische Ereignisse zum Thema – wie den Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt in Polen, runde Jubiläen (50 Jahre Kinderhilfswerk) oder bedeutende Persönlichkeiten wie den Schriftsteller Ernst Jünger. Allerdings kommen keine lebenden Personen in Frage – mit Ausnahme des deutschen Bundespräsidenten und des Papsts.
Übrigens: Jeder kann Vorschläge für eine Marke beim Bundesfinanzministerium einreichen. Über die Realisierung entscheidet dann ein Programmbeirat, der mindestens einmal im Jahr tagt. Er setzt sich aus Mitgliedern des Finanzministeriums, des Bundestags, der Deutschen Post, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des deutschen Presserats und von Vertretern der Philatelisten zusammen.
Rund 100 Grafikerinnen und Grafiker kümmern sich um die Gestaltung. Das Bundesfinanzministerium bittet für jede Marke jeweils sechs bis acht von ihnen um einen Entwurf. Die Entscheidung fällt anschließend in einem Kunstbeirat aus Experten.
Grundsätzlich sind auch die Sonderbriefmarken natürlich zum Frankieren gedacht, teilt die Pressestelle der Deutschen Post mit. Doch es gebe immer wieder Motive, die bei Sammlern auf besondere Nachfrage stießen, wie etwa die Sonderbriefmarke für den britischen Sänger David Bowie. Insgesamt achte man bei der Gestaltung aller Briefmarken »auf schöne und farbenfrohe Motive«.
Text: Hartmut Voigt
Fotos: Michael Matejka
Auf den Spuren der Briefmarken taucht der Sammler in die Stadtgeschichte ein. Denn den Philatelisten geht es auch um die Briefe, die die Marken zieren.