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Einblicke in die Kampfzone

Der Ton ist rau: Bei Demonstrationen geht es inzwischen seit Jahren verbal hart zur Sache. Foto: imago/IPON

»Kampfzone – Über die Verrohung von Sprache und Gesellschaft« hieß eine Podiumsdiskussion, die im August vorigen Jahres auf dem Erlanger Poetenfest stattfand. Zu Gast waren der Philosoph und Publizist Christian Schüle und die ehemalige DDR-Sprinterin, Theaterprofessorin und Autorin Ines Geipel. Sechs+sechzig-Autor Herbert Heinzelmann moderierte die Veranstaltung und befasst sich hier noch einmal kritisch mit Ursachen und Folgen der sprachlichen und sozialen Verrohung in unserem Land.

In ihrem neuen Buch »Umkämpfte Zone – Mein Bruder, der Osten und der Hass« hatte Ines Geipel formuliert: »In der AfD steckt vieles, wie in Pegida, den Identitären, den Reichsbürgern, der deutschen Burschenschaft vieles steckt. Empörungsmotive gibt es wie Sand am Meer. Auffällig bleibt das Fundamentalistische, die Hybris, das Ausgrenzende. Lust auf Enthemmung ist immer totalitäre Ortlosigkeit.«

»Der Mensch an sich wird infrage gestellt«

Das aktuelle Buch von Christian Schüle hatte den Titel »In der Kampfzone – Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung«. Darin heißt es: »Wo man hinsieht, tobt der Irrsinn. Zu den erschreckenden Erkenntnissen unserer Zeit gehört jene, dass der antiautoritäre Konsens über die bedingungslose Würde des Menschen zu schwinden begonnen hat. Drangsal, Leid, Verletzung, Missbrauch, Folter und Tod werden nicht mehr selbstverständlich mit dem Hinweis auf die ›Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‹ beantwortet. Der Mensch an sich wird infrage gestellt.«

Am Ende der Diskussion war viel über die AfD geredet worden, weil sie das Sprachrohr der Empörung und Enthemmung ist. Doch wir wussten immer noch nicht, warum Autofahrer gegen Sankas treten, wenn die ihnen bei einem Rettungseinsatz im Weg stehen. Warum Polizisten bei einer Absperrung nach einem Unfall oder einem Verbrechen beschimpft und beleidigt werden. Warum man Ticket-Kontrolleure in öffentlichen Verkehrsmitteln verprügelt und mal so eben einen lauten Mitbürger vor die einfahrende U-Bahn stößt. Vor allem aber wussten wir nicht, warum es im Internet haufenweise Foren gibt, in denen anonyme Teilnehmer sowohl Mitforisten als auch politische und mediale Prominente massiv diskriminieren.

Warum mutieren wir zu Wutbürgern?

Was also ist los – nicht nur in diesem Land? Warum mutieren wir zu Wutbürgern? Warum vergessen wir die »gute Kinderstube«, die es offensichtlich in vielen Fällen gar nicht gab? Sind womöglich die »Achtundsechziger« mit ihren Forderungen nach antiautoritärem Verhalten verantwortlich?

Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es gibt vermutlich eine gemeinsame Basis für verrohendes Verhalten. Da ist der Verlust zahlreicher Sicherheiten, die man für unerschütterlich hielt. Wir befinden uns zur gleichen Zeit in unübersichtlich vielen Umbruchsituationen. Systeme, in denen wir uns organisiert hatten, zerfallen. Nehmen wir die Wirtschaft – Autoproduktion, Landwirtschaft, Bankenwesen. Alles steht auf dem Prüfstand. Neue Verkehrsmodelle werden uns zugemutet. Die einst begehrte »autogerechte Stadt« wirkt auf einmal sehr ungerecht. Radfahrer werden eine Macht. Und so weiter. Die Bauern, die uns dank Massentierhaltung und Felderdüngung billig versorgt haben, bekommen soziale und moralische Probleme, weil Abnehmer neue Lebensweisen entwickeln und Tierwohl und Öko-Anbau plötzlich eine große Rolle spielen. Und die Banken geben keine Zinsen mehr auf unsere Einlagen, verdienen an undurchschaubaren, aber offensichtlich heiklen Geldgeschäften und müssen notfalls gerettet werden, damit unser Vermögen gerettet wird.

Das Auto soll den Spaßfaktor verlieren

Das sind ein paar konkrete Systemveränderungen. Sie führen zu Modifikationen beim Lebensstandard. Alterssicherungen geraten ins Rutschen. Andere Ernährungsmethoden werden diskutiert. Das Auto, über dessen Besitz viele ihre Identität aufgemöbelt haben, soll plötzlich den Spaßfaktor verlieren. Im Grunde wollen das alles sehr viele Bürger nicht. Sie wollen, dass es so bleibt, wie es war. Und weil sie merken, dass da gerade Lawinen der Veränderung unaufhaltsam ins Rutschen kommen, schlagen sie um sich.

Die Politik hat sie ja nicht vorbereitet auf die Zumutungen, die am Horizont schon lange sichtbar waren. Man hat mit »ruhiger Hand« regiert, hat es vermieden, Visionen zu entwickeln, hat unsinnige Projekte wie »Stuttgart 21« gegen Zweifel durchgesetzt und sinnvolle Projekte wie den Ausstieg aus der Atomenergie oder den humanen Umgang mit Migranten nicht überschaubar vorgeplant und offensiv kommuniziert.

Das Resultat ist Überforderung

Das Reizthema der Flüchtlingsbewegungen stand schon lange auf der Tagesordnung. Denn die Welt ist zerfallen in die Regionen, in denen wir in unseren Luxus-Blasen und sozialen Hängematten beinahe sorglos das Leben genießen, und in die anderen voller Krieg, Not und Elend. Moderne Kommunikationsmittel machen diese Verwerfungen überall sichtbar. Und die Elenden wollen nun mal dahin, wo es gut zu gehen scheint. Jedenfalls bricht plötzlich vieles über uns »Zivilisierte« herein. Das Resultat ist Überforderung. Und aus der wiederum resultieren lärmende Aufmärsche angeblich besorgter Bürger. Das ist Kindertrotz. Da kriegt der beste Spielkamerad schon mal ein paar Schläge ab.

Vor allem, weil sich das Individuum in seiner Freiheit und in seiner erträumten Optimierung verletzt fühlt. Das neue Individuum, das aus Fleisch, Tastatur und Bildschirm besteht und unentwegt den Mittelpunkt der Kommunikation darstellen möchte. Dauernd mache ich Fotos von mir und reibe sie anderen digital unter die Nase. Ebenso erwarte ich, das Kommunikationszentrum für alle anderen zu sein, die mich an ihren schönen Augenblicken teilhaben lassen müssen und ihrerseits alles »liken« sollen, was ich von mir gebe. Mit dem Smartphone werde ich als »User« mir selbst besonders wertvoll und wichtig. Wehe, wenn dieses Lebensgefühl durch irgendetwas bedroht wird. Im Netz finde ich die Gruppe, die so fühlt wie ich. Andersdenkende sind hier Außenseiter. Sie dürfen geschmäht werden. Und sei es durch eine Emoticon-Grimasse oder einen gesenkten Daumen.

Unentwegter kommunikativer Erregungszustand

Auch die Einrichtung neuer sozialer Welten durch die Digitalisierung gehört zu den rasenden Transformationsprozessen, denen wir ausgesetzt sind. Was die Arbeitswelt 4.0 oder 5.0 bringen wird, wissen wir überhaupt noch nicht. Nur dass sie schneller kommt, als wir denken. Aber tatsächlich dürfte die Narzissmus-Funktion unserer Handys ein Hauptproblem sein. Ich bin mir und allen anderen am wichtigsten. Ich bin in einem unentwegten kommunikativen Erregungszustand. Für mich gilt, was diesen Zustand positiv polstert. Meine »Follower« stimmen zu. Was ihn verunsichert, macht mich böse. Dann schlage ich zu, zunächst verbal und digital; es gibt ja keine Sanktionen.

Weil wir Mischwesen zwischen analoger und digitaler Realität werden, sinken die Hemmschwellen. Weil wir uns in unseren Selbstoptimierungs-Illusionen gestört fühlen, kommt es zum Kontrollverlust. In den Internet-Foren dürfen wir ungestraft Tötungs-Fantasien z.B. gegen Politiker loswerden (lesen Sie mal in den AfD-nahen »PI-News«; dort heißt die Kanzlerin nur Mer-Kill oder Ferkel). Warum eigentlich sollten wir in der Wirklichkeit »bürgerlichen Anstand« demonstrieren? Wo doch, wie gesagt, die schützenden Systeme ohnehin zerbröseln: Demokratie, Europa, Wachstum, internationale Verbindlichkeit von Verträgen. Wir stehen desorientiert mitten in einer Globalisierung, die sich unserer Mitwirkung entzieht. Also schreien wir auf. Also prügeln wir los. Und wenn in einem schiefen Kinderlied des WDR die Oma als »alte Umweltsau« Motorrad fährt, gelingt es den dauererregten Kreisen, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums unsere allgemeinen Verunsicherungen in aggressive Stimmungen ummünzen, tatsächlich, Generationen aufeinander zu hetzen.

»Wo man hinsieht, tobt der Irrsinn«, habe ich Christian Schüle zitiert. Hoffnung? Sehe ich nicht. Die Transformationsprozesse unseres Daseins sind objektiv und setzen sich mit wachsender Geschwindigkeit fort. Gewiss, es gab in der Geschichte schon öfter ähnlich revolutionäre Situationen. Und immer wurden sie von dem Chaos begleitet, auf das wir gerade zusteuern. Dennoch sollten wir das Chaos mit Würde ertragen. Roh nennen wir Tiere, die sich zerfleischen. Versuchen wir die Menschlichkeit zu bewahren, die wir doch als besondere Qualität unserer Gattung behaupten.

Text: Herbert Heinzelmann
Foto: imago/IPON

Unser Tipp: Diskutieren Sie mit: Auf der Messe inviva wird Autor Herbert Heinzelmann auf der sechs+sechzig-Bühne am 26.2., 13.30 Uhr, im Talk mit Petra Nossek-Bock über dieses Thema sprechen.

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