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„Damals war die Hauptschule gesund“

 

Werner Gnad blickt zurück: Der 75-Jährige war Hauptschullehrer aus Überzeugung.

Innerhalb von drei Generationen hat sich das Bildungssystem grundlegend geändert, vor wenigen Jahrzehnten war sie tatsächlich noch das, was der Name versprach: die Hauptschule. Sie war die Bildungseinrichtung, die hauptsächlich einen gewissen Bildungsstandard sicherstellte. Seit einigen Jahren heißt die Hauptschule Mittelschule, und der Versuch ist allzu durchsichtig, den schlechten Ruf mit einem wohlklingenden Namen schönzufärben. Das böse Wort von der »Resteschule« hört man trotzdem noch.

Da braucht es engagierte Lehrer, solche, die ihren Idealismus nicht verlieren. Sie sind heute als Pädagogen vielleicht viel mehr gefragt als früher. Denn die Schüler haben sich verändert – so wie sich die ganze Gesellschaft gewandelt hat. Für das Magazin sechs+sechzig haben vier Lehrer im Alter zwischen 30 und 75 von ihrem Beruf erzählt, von den schönen und den zermürbenden Seiten im Wandel der Zeit.

Werner Gnad (75), Hauptschullehrer im Ruhestand: »Ich wollte Lehrer werden. Und: Ich wollte an die Hauptschule, wie die Mittelschule damals noch hieß. Nach meiner Prüfung wurde mir zwar angeboten, noch mal zwei Jahre Studium dranzuhängen und dann auf die Realschule zu wechseln, aber darauf hatte ich keine Lust. Ich wollte eine Klasse führen und nicht nur Fachlehrer sein.

Meine erste Klasse hatte ich Ende der 60er Jahre. Damals war die Hauptschule noch gesund: Mit einem Qualifizierenden Hauptschulabschluss in der Tasche konnte man Bank- und Bürokaufmann lernen, Verwaltungstätigkeiten bei der Gemeinde übernehmen, die unterschiedlichsten Handwerksberufe ergreifen und vieles mehr. In den Klassen war es ein angenehmes und erfolgreiches Arbeiten und Lernen. Viele Eltern haben ihre Kinder da- mals ganz bewusst auf die Hauptschule geschickt und auf einen Übertritt auf die Realschule verzichtet. Das hat sich mit den Jahren komplett gewandelt.

Schlimm war, als man angefangen hat, in Kernfächern wie Mathematik und Englisch zu differenzieren und die Klassen in A- und B-Kurse aufzuteilen. Die Schüler in den B-Kursen haben dann recht schnell festgestellt, dass sie die Schwachen sind – was für sie nicht gerade motivierend war. Überhaupt wurden die Lehrpläne oft und gerne neu gestaltet, dadurch aber nicht unbedingt besser und interessanter. Neue Fächer wurden geschaffen, indem man zwei bis drei Fächer zusammengelegt hat, zum Beispiel Geschichte, Sozial- kunde und Erdkunde zum neuen Fach GSE. Das zog natürlich neue Bücher, neue Stoffverteilungspläne und neue Zeugnisformulare nach sich.

Der entscheidende Tiefschlag für die Hauptschule kam meiner Meinung nach jedoch mit der Einführung der sechsjährigen Realschule im Jahr 2000. Bis dahin war es so, dass nach der 4. Klasse der Wechsel ans Gymnasium anstand und nach der sechsten Klasse der Wechsel an die Realschule. In diesen zwei Jahren konnte sich an der Hauptschule wieder eine neue Leistungsspitze entwickeln, konnten die Schüler, die vorher im Schatten der Gymnasiasten standen, voll durchstarten. Das war nun anders. Nun wollten die meisten Eltern ihre Kinder nach der 4. Klasse aufs Gymnasium schicken und, wenn die Noten nicht ausreichten, ›dann wenigstens auf die Realschule‹. Die Folge: Die Hauptschule blutete aus, wurde regelrecht kaputt gemacht.

Aber dieses Ausdünnen war politisch gewollt. Wenn man böse gewesen wäre, hätte man fragen können, ob Deutschland über all die Jahre intelligenter geworden ist. Oder ob vielleicht die Anforderungen an den Gymnasien immer weiter zurückgeschraubt wurden, damit immer mehr Schüler Abitur machen. Hätte ich am Ende meiner Dienstlaufbahn eine Probearbeit aus der Schublade gezogen, die ich als Junglehrer an der Hauptschule entworfen hat- te – die wenigsten Schüler hätte die mehr bewältigen können. Der Schwierigkeitsgrad wäre viel zu hoch gewesen …

Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Die Schularbeit mit den Kindern und Jugendlichen hat mir bis zu meiner Pensionierung stets Spaß gemacht, nicht jedoch die vielen Veränderungen, Bestimmungen und Erneuerungen von oben. Gerade die Hauptschule, die ja von Schülerinnen und Schülern mit den unterschiedlichsten Begabungen besucht wird, hätte mehr Ruhe gebraucht.”

Astrid Boekamp liebt die Arbeit mit den Jugendlichen.

Astrid Boekamp (48) ist Rektorin an der Mittelschule Altdorf: „Ich brenne immer noch für meinen Job. Ich bin jetzt seit 26 Jahren Lehrerin und seit zwölf Jahren in der Schulleitung – und habe immer gedacht, dass die Begeisterung irgendwann nachlässt. Aber ich habe mir das gut erhalten können über all die Jahre. Da ist immer etwas anderes, was das Feuer neu entfacht. Früher war es der eigene Unterricht, jetzt ist es die Schulleitung und die damit einhergehenden Möglichkeiten, ein Schulleben zu gestalten.

Ursprünglich wollte ich Grundschullehrerin werden, aber schon im ersten Praktikum habe ich gemerkt, dass diese Alters- klasse nichts für mich ist. Ich arbeite gerne mit Jugendlichen und Pubertierenden, das ist für mich das angenehmere Alter. Die Schülerinnen und Schüler kommen als Grundschulkids zu mir, ich entlasse sie als Halb-Erwachsene – das ist zwar mitunter anstrengend und kann auch ganz schön nerven, unter dem Strich aber definitiv der interessantere Lebensabschnitt für mich.

Das Vorurteil mit der Resteschule ist leider nicht ganz von der Hand zu weisen. Am Ende der Grundschule sind die Eltern sehr darauf bedacht, dass das eigene Kind mindestens auf die Realschule geht. Dabei spricht vieles für die Mittelschule: Wir haben kleinere Klassen als Gymnasium und Realschule – und als einzige das Klassenleiterprinzip, das vielen Schülern entgegenkommt.

Ob der Abschluss der Mittelschule heute noch etwas wert ist? Ich finde schon. Es gab andere Zeiten, aber im Moment läuft es wieder richtig gut. Wir merken den Fachkräftemangel am Markt dadurch, dass viele Betriebe auf uns zukommen. Umgekehrt sichern sich viele Schüler über die Praktika einen Ausbildungsplatz. Da geht es viel ums Kennenlernen, und am Ende ist auch die schwache Mathenote egal. Wenn es passt, dann sagt der Chef, ach, das kriegen wir schon hin.“

Ciler Celdik freut sich über die Nähe zu ihren Schülerinnen und Schülern.

Ciler Celdik ist Mittelschullehrerin in Fürth. Die 31-Jährige empfindet ihre türkische Herkunft als Vorteil im Schulalltag: “An der Mittelschule wurde ich mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Ich hatte ursprünglich Englisch und Geschichte für Realschulen studiert und war hier drei Jahre tätig, bevor ich die Schulart gewechselt habe. Das Angebot dieser Sondermaßnahme hat mir damals unsere Schulleiterin in die Hand gedrückt – zum Glück! Die Jobsituation an den Realschulen ist bisher nicht sehr berauschend. Hier war die Mittelschule klar im Vorteil. Im Rahmen der Sonder- maßnahme konnte man weitestgehend in seinem eigenen Regierungsbezirk bleiben und hatte nun endlich eine Aussicht auf eine gesicherte Stelle.

Natürlich habe ich mich vorher gefragt, ob ich wirklich die Schulart wechseln will. Aber mit dem Klassenleiterprinzip der Mittelschule bist du perfekt in der Klasse integriert. Die Intensität der Lehrer-Schüler-Beziehung gibt es so an keiner weiterführenden Schule, und das ist es, was ich an meinem Beruf liebe: Dass die Schüler eine Beziehung zu dir aufbauen, dass sie – wenn die Chemie stimmt – auch mit persönlichen Geschichten bis hin zu privaten Problemen kommen. Im Idealfall wird man ein Team. Das immer wieder zu erleben, gefällt mir am meisten an meinem Job. Ich würde nicht behaupten, dass es an Mittelschulen mehr Probleme gibt als ans Realschulen oder Gymnasien …

Ich bin in der Türkei geboren und Muttersprachlerin – das ist ein Riesenvorteil an einer Schule, in der viele Schüler ebenfalls Migrationshintergrund haben. Im Unterricht wird Deutsch gesprochen, doch wenn irgendwo etwas unklar ist, dann kann man jederzeit kurz umschalten. Oft ist es tatsächlich nur ein Wort, das unklar ist, und das hat man dann schnell geklärt.

Die Schüler kommen relativ gut mit der deutschen Sprache klar, das Türkische zieht vor allem bei den Eltern. Oft bekommt man sie gar nicht in die Schule, weil sie sich dort nicht verstanden fühlen, also mal rein sprachlich gesehen nicht. Sie können sich im Türkischen dann doch besser ausdrücken und können ihre Probleme schildern und wir finden gemeinsam eine Lösung. Hauptsache, ich kann sie mit ins Boot holen.“

Ronald Bauer hat nette Kollegen, aber die Schüler strengen ihn an: „Ich war am Anfang zu sanft. Das rächt sich nun.“

Ronald Bauer ist ein Spätberufener. Der 41-jährige Weißenburger hat lange und viel Musik gemacht. Heute arbeitet er in einer Münchner Mittelschule – und kämpft ums Überleben, weil der Job an die Substanz geht: “Ganz ehrlich: Bei mir läuft gerade alles nicht so super. Ich hänge ganz schön drin – der vielzitierte Praxisschock lässt grüßen! Ich finde es natürlich cool, Musikunterricht zu geben, aber auf meinem derzeitigen Posten fühle ich mich ziemlich verloren. Klar liegt das auch an mir: Ich war am Anfang zu soft, habe nicht konsequent genug Regeln durchgesetzt und Strafen verhängt – das rächt sich nun. Wenn du zu nett zu den Schülern bist, dann fressen sie dich auf, vor allem als Fachlehrer, wo man eh nur stundenweise in den Klassen ist. Gerade an der Mittelschule brauchen die Schüler Regeln, Grenzen und klare Strukturen. Dafür ist das Klassenleitersystem eine prima Sache. Viele Schüler nutzen dann jedoch den Fachunterricht, um ausflippen zu können … gerade in einem Nebenfach wie Musik, das eh keinen interessiert.

Mit meiner Schule habe ich eigentlich Glück gehabt: Das Kollegium ist offen und sehr nett, die Kollegen versuchen mir zu helfen, wo es geht. Das ist überhaupt so ein genereller Eindruck von mir: Dass es unter den Mittelschullehrern deutlich herzlicher und kollegialer zugeht und mehr an einem Strang gezogen wird als am Gymnasium, wo mehr oder weniger jeder sein eigenes Süppchen kocht.

Bei meinem Problem hilft mir das gerade aber leider nicht wirklich weiter. Ich hätte einfach sehr gerne eine Klassenleitung wie alle anderen auch. Aber als Musiklehrer muss ich jede Stunde in einer anderen Klasse sein, das ist echt ätzend – da wird man als junger Lehrer ganz schön verbrannt. Ich merke, wie mir der Job an die Substanz geht. Es gibt Tage, da komme ich heim, hocke mich aufs Sofa und starre nur noch vor mich hin. In solchen Momenten fragt man sich dann schon, ob man dem Ganzen gewachsen ist oder ob man nicht lieber auf seine Gesundheit achten und sich doch besser etwas anderes suchen sollte …“

GESPRÄCHSPROTOKOLLE: STEFAN GNAD
FOTOS: MICHAEL MATEJKA

 

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