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Genossenschaftsgedanke lebt durch Senioren auf

Erna Höhenberger (86) wird von Erna Steinhardt, der Lebensgefährtin des Vorsitzenden Mathias Abbé, zum Auto geleitet und nach Forchheim zum Arzt gefahren. Foto: Mile Cindric

Erna Höhenberger muss zum Arzt. Die 86-Jährige wohnt allein in ihrem großen Zweifamilienhaus in Heroldsbach, die Arztpraxis in der Kreisstadt Forchheim ist knapp zehn Kilometer entfernt und wäre für sie, die auf zwei Krücken angewiesen ist, schier unerreichbar. Gäbe es da nicht Hilfe durch die Seniorengenossenschaft »Wir für uns« – eine weithin einmalige Einrichtung. Die ehrenamtliche Fahrerin Erna Steinhardt, die Lebensgefährtin des Vorsitzenden Mathias Abbé, ist zur Stelle, bringt Erna Höhenberger nach Forchheim, wartet auf sie, erledigt Einkäufe und fährt sie wieder nach Hause.

Die Idee der Seniorengenossenschaften ist bestechend: Sie ist ein Modell des bürgerschaftlichen Engagements auf Gegenseitigkeit mit dem Ziel, auch älteren Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Im Raum Nürnberg aber haben sich die Verbünde noch nicht richtig durchgesetzt – mit Ausnahme von »Wir für uns« in Heroldsbach bei Forchheim.

Die Idee dazu entstand beim Joggen. Eine Gruppe von Männern aus Heroldsbach traf sich regelmäßig zum Sport. Zu ihr gehörte Mathias Abbé. Heute, fast zehn Jahre später, erzählt der ehemalige Ingenieur, dass sie sich damals beim Laufen gefragt hätten, was passiert, wenn sie auf Hilfe angewiesen seien – wie viele ihrer Altersgenossen schon jetzt. Wenn keine Familie eingreifen kann, aber professionelle Pflege noch nicht nötig ist. Mehr oder weniger unverbindliche Nachbarschaftshilfe war dem Kreis um Mathias Abbé zu wenig, also entschloss man sich, das Ganze auf eine sichere Basis zu stellen.

Vor der Gründung war viel Arbeit zu erledigen: Interessenten finden, eine Satzung ausarbeiten, die Genossenschaft eintragen lassen. 2011 schlug dann die Geburtsstunde von »Wir für uns«. Mittlerweile hat die gemeinnützige »Hilfe auf Gegenseitigkeit« für Heroldsbach und den Nachbarort Hausen 86 Mitglieder im Alter zwischen 40 und 90 Jahren; von denen sind 20 bis 25 regelmäßig aktiv, in der Mehrzahl rüstige Rentner. Jetzt sucht man dringend neue Aktive, denn der Hilfebedarf steigt. In Heroldsbach, erzählt Vorsitzender Abbé, hätten sich viele Familien von Siemens-Angehörigen niedergelassen. Wenn die Jungen wegziehen, lebten viele Eltern oder nur ein Elternteil allein in viel zu großen Häusern und kämen ohne Hilfe nicht mehr zurecht.

Professorin erforscht das Miteinander

»Wir für uns« betrat insoweit Neuland, als es damals im Jahr 2011 im Raum Nürnberg noch keine solche Organisation gab – und auch heute in dieser Form noch nicht gibt. Bundesweit sind es aber fast 300, sie alle bauen auf dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe auf. Und sie waren auch schon Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Federführend war und ist dabei die Professorin Doris Rosenkranz von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm in Nürnberg. Das Ergebnis fasste sie im Gespräch mit sechs+sechzig so zusammen: »Wir haben bei unserer empirischen Erhebung zwei wesentliche Kriterien entdeckt: Es muss einen verbindlich organisierten Rahmen geben, und die Binnenstruktur muss solidarisch sein«, nach den Prinzipien Selbsthilfe,

Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und gesellschaftliches Miteinander. Innerhalb dieses Rahmens seien alle Genossenschaften ganz individuell auf die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zugeschnitten. Nur etwa jede vierte ist tatsächlich eine Genossenschaft im rechtlichen Sinn, die anderen sind Vereine, nennen sich aber oft Genossenschaft oder auch, wie etwa in Kronach, Seniorengemeinschaft.

In Heroldsbach und Hausen wohnen 9000 Einwohner in fünf Ortsteilen. Die Verhältnisse sind übersichtlich, man kennt einander und weiß, wo der Schuh drückt. Obwohl das manchmal gar nicht so vorteilhaft ist, räumen Abbé und die zweite Vorsitzende Marianne Karper-Imig ein. »Manche Ältere haben Hemmungen zuzugeben, dass sie Hilfe brauchen«.

Rosenkranz hat jedoch festgestellt, dass die Genossenschaft stets ein sehr gutes Mittel ist, solche Hürden zu überwinden. Denn hier begegnen sich Helfer und Hilfesuchende auf Augenhöhe. Wie das funktioniert, lässt sich am Heroldsbacher Beispiel gut erläutern. »Wir haben die Form der Genossenschaft gewählt, weil anders als in einem Verein die Mitglieder mehr Mitwirkungsrechte haben«, betont Vorsitzender Abbé. So gebe es beispielsweise einen Aufsichtsrat, der alle Geschäfte kontrolliert und aufpasst, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Das sei kein Misstrauensvotum gegen den Vorstand, sondern sorge für mehr Transparenz in dem in der Satzung festgelegten, mitunter komplizierten Verhältnis von Leistung und Gegenleistung.

Jedes Mitglied muss zunächst pro Jahr 60 Euro Geschäftseinlage zahlen, hinzu kommt ein jährlicher Mitgliedsbeitrag von 24 Euro (Ehepaare 32 Euro). Jedes Mitglied verpflichtet sich, im Rahmen seiner Möglichkeiten Hilfe zu leisten. »Jeder macht die Arbeit, die ihm liegt«, erläutert Abbé. Wer Hilfe braucht, wendet sich zuerst an die Disponentin oder einen der drei Disponenten, von denen immer eine(r) erreichbar ist. Doris Rosenkranz nennt diese Personen »Kümmerer«, denn sie kümmern sich tatsächlich darum, Helfer zu vermitteln und Termine festzulegen.

Welche Tätigkeiten infrage kommen, ist in der Satzung festgelegt. »Kleine Reparaturen im Haushalt sind möglich, aber wir wollen Handwerkern keine Konkurrenz machen«, betont der Vorsitzende. Erna Höhenberger braucht einen Mix aus Hilfeleistungen. Früher hat sie nach Abbés Worten ihren Haushalt allein besorgt, »aber nun geht das nicht mehr, und wir wollen ihr zusammen mit Nachbarn helfen, dass sie ihren Lebensabend zu Hause verbringen kann«. Die Seniorengenossenschaft sei dabei keine Konkurrenz zu professionellen Sozialdiensten, sondern eine Ergänzung.

Immer gleich viel wert 

Für jede geleistete Stunde muss der Kunde oder die Kundin acht Euro zahlen. Zwei fließen in die Geschäftseinlage, sechs bekommen die Helfer. Diese können das Geld behalten oder sich die Stunde auf einem Zeitkonto gutschreiben lassen – und damit »bezahlen«, wenn sie selbst einmal Hilfe brauchen. Dabei spielt die Art der Tätigkeit keine Rolle. »Autofahrten sind so viel Wert wie Rasenmähen oder kleine Reparaturen«, betont Marianne Karper-Imig, »eine Stunde ist eine Stunde«. In anderen Orten, das hat Rosenkranz‘ Untersuchung gezeigt, gibt es damit Probleme.

Was in Heroldsbach und Hausen am meisten gebraucht wird, ist »begleitetes Fahren« zum Arzt oder Einkauf, wie es Abbé nennt. »Wir haben zwar eine gute ÖPNV-Anbindung, aber wer mit Krücken, Rollator oder Einkaufs-Trolley in einen Bus einsteigen soll, hat immer eine Hemmschwelle im Kopf.« 1500 Kilometer kommen im Jahr zusammen, verteilt auf 15 Fahrer – man sei dennoch keine Konkurrenz für Taxis, versichert der Vorsitzende. 

Dass jede Leistung bezahlt werden muss, sehen die Praktiker vor Ort wie auch die Wissenschaftlerin als großen Vorteil. Der Preis sei einerseits so niedrig, dass auch Menschen mit wenig Geld ihn sich leisten können, gebe den Kunden andererseits aber das Gefühl, »bei anderen nicht so in der Schuld zu stehen«, so Rosenkranz. Für die Soziologin verkörpert die Genossenschaftsidee »ein sehr schönes Menschenbild«. Man bringe sich ein, profitiere aber auch selbst davon. Und wie bei jedem Engagement stehe eines im Vordergrund: »Ich möchte Freude haben.«

Herbert Fuehr

Weitere Informationen zur Heroldsbacher Genossenschaft finden Sie unter dieser Adresse. Einen Leitfaden zur Gründung von Seniorengenossenschaften hat das bayerische Sozialministerium veröffentlicht. Auf seiner Seite finden Sie auch Infos zu Anschubfinanzierungen.

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