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Ilse bringt Wärme ins Sonnenhaus

Was sie später machen wollte, wusste Ilse schon in der vierten Grundschulklasse: Musik studieren. Oder was mit Kindern. Gemacht hat sie dann gewissermaßen beides. Heute ist Ilse Hoecke-Lauermann 77. Fast ihr ganzes Leben hat sie mit Kindern verbracht – mit geistig behinderten Kindern. Gemacht hat sie dann gewissermaßen beides. Heute ist Ilse Hoecke-Lauermann 77. Fast ihr ganzes Leben hat sie mit Kindern verbracht – mit geistig behinderten Kindern.

Sie ist die gute Seele des Sonnenhauses, hat es aber auch organisantorisch auf feste Beine gestellt: Ilse Hoecke-Lauermann (rechts) mit einer Bewohnerin. Foto: Mile Cindric
Was sie später machen wollte, wusste Ilse schon in der vierten Grundschulklasse: Musik studieren. Oder was mit Kindern. Gemacht hat sie dann gewissermaßen beides. Heute ist Ilse Hoecke-Lauermann 77. Fast ihr ganzes Leben hat sie mit Kindern verbracht – mit geistig behinderten Kindern.

Sie hat mit ihnen gearbeitet, gegessen, gelebt; noch heute musiziert sie mit ihnen. Sie war schon dabei, als solche Kinder noch als debil, ihre Krankheit als »Idiotie« bezeichnet wurde.

Seit etwa fünf Jahrzehnten setzt Ilse Hocke-Lauermann sich für diese Kinder im »Sonnenhaus« in Unterleinleiter in der Fränkischen Schweiz ein. Fast ihr ganzes Arbeitsleben hat die gelernte Heilpädagogin in dem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung verbracht, acht Jahre davon als Heimleiterin. Über sich selbst zu reden – das entlockt der 77-Jährigen zunächst nur eine wegwerfende Handbewegung: »So interessant ist das nicht.« Glücklicherweise erzählt sie dann doch, irgendwann sogar gern, hat man den Eindruck.

Zum »Sonnenhaus« kommt man, wenn man sich hinter Ebermannstadt nördlich hält, am Ortsende von Unterleinleiter rechts abbiegt und ein paar enge Kurven nach oben, auf den Störnhofer Berg fährt. Im Winter kann das schon mal schwierig werden. Sonst aber ist die Verbindung zum Dorf gut, nicht nur, was den Weg betrifft. »Die Gemeinde war von Anfang an sehr aufgeschlossen uns gegenüber.« Das war damals noch weniger selbstverständlich als heute.

Sie sagt »uns«, obwohl sie damals noch nicht dabei war. 1947, vor 70 Jahren also, kam die Gruppe von Behinderten und Pflegern im Schloss Unterleinleiter unter, das sich zu dieser Zeit noch im Besitz der Nachfahren des Adelsgeschlechts von Seckendorff befand. »Uns« sagt Ilse Hoecke-Lauermann auch deshalb, weil sie mit der Geschichte des »Sonnenhauses« inzwischen fest verwoben ist.

Glücklich in der Hundehütte

Diese begann 1924, als drei begüterte, unverheiratete Damen in der Nähe von Berlin die Betreuungseinrichtung gründeten. Mit viel Glück konnten sie die Kinder an Hitlers Euthanasieprogramm vorbeischleusen. Als später die Kriegsfront von Russland aus immer weiter in den Westen rückte, zog das »Sonnenhaus«, wie es damals schon hieß, über Kassel nach Bayern.

Auch Ilse verließ während des Kriegs ihre Heimat; die Sechsjährige floh an der Hand ihrer Mutter aus dem Sudetenland ins mittelfränkische Emskirchen. Hinter sich hatten sie zwei Jahre Lager in der Nähe von Prag. Die Mutter, Dolmetscherin und Sekretärin, musste dort schwere landwirtschaftliche Arbeit verrichten. Ilse blieb tagsüber viel allein. »Das fand ich natürlich toll«, erinnert sie sich lachend. Abenteuer auf eigene Faust liebte sie. Bereits als Zweijährige, so erzählte ihr die Mutter später oft, sei sie einmal in die Hütte eines angeketteten Schäferhundes gekrabbelt. Während die Mutter draußen die Hände rang – ihr verwehrte das Tier knurrend das Näherkommen –, fühlten sich Ilse und Hund so wohl miteinander, dass sie sich gemeinsam zu einem Schläfchen niederlegten…

Die Hundeliebe ist bis heute geblieben. Bis vor kurzem widmete Ilse Hoecke-Lauermann sich der Zucht weißer Spitze, flauschige Fellbündel, mit schwarz glänzenden Augen und hochgereckter Schnauze. »Vier alte habe ich jetzt selbst noch«, sagt sie. Aber so alt offenbar doch nicht, denn wer sich Ilses Haus nähert, dem rät sie, lieber etwas Abstand zum Gartentor zu halten – Spitze sind Wachhunde, sehr auf ihren Menschen bezogen und Fremden gegenüber misstrauisch. Wie Blitze schießen die vier heraus, als Ilse die Haustür öffnet. Erst nachdem sie den Besuch abgecheckt haben, umtänzeln sie Frauchen freudig.

Ilses Haus liegt am oberen Ende der »Sonnenhaus«-Anlage, gleich neben den Gebäuden, in denen ihre Schützlinge untergebracht sind – wahlweise in Einzel- oder Doppelzimmern. In den 1980er Jahren fand der Umzug aus Schloss Unterleinleiter auf den Störnhofer Berg statt. Mittlerweile besteht die Einrichtung aus acht Gebäuden, alle tragen die Sonne im Namen, heißen Sonnenhof, Sonnenwinkel oder Sonnenblick.

Stiftung sichert die Zukunft

Ilse wurde 1981 – da gehörte sie schon viele Jahre zur unverzichtbaren Kraft im Heim – von einer der drei Gründungsdamen adoptiert (und nahm deren Nachnamen mit an). Damit war sie erbberechtigt, und die Gründerinnen konnten sicher sein, dass die Institution in ihrem Sinne weitergeführt werden würde. Von 1990 bis 1998 leitete Ilse Hoecke-Lauermann das Heim; dann wandelte sie es, selbst ohne Familie, in eine Stiftung um, in deren Rat sie heute sitzt.

Die Heimanlage zu verlassen, nachdem sie dessen Leitung abgegeben hatte, kam ihr nie in den Sinn. Wandert man heute mit ihr durch die Anlagen und Räume, ruft es von überall her »Ilse, Ilse«. Und Ilse geht zu jedem »ihrer Kinder«, streichelt dem einen die Wange, dem anderen den Arm, fragt das dritte, wie das Mittagessen heute gewesen sei. Alle strahlen, alle erzählen, und alle wollen dem Besuch stolz ihre selbst eingerichteten Zimmer zeigen. Ohne Scheu präsentieren sie Kuscheltiersammlung, Harmonium oder die Fanartikel von Bayern München; ohne Berührungsängste nehmen sie die Gäste an der Hand, ziehen sie mit sich, fallen ihnen unvermittelt um den Hals. Kinder eben.

Und genau genommen doch nur dem Wesen nach Kinder. Seit einigen Jahren nimmt das Heim nur noch Volljährige auf – Erwachsene also, auch wenn sie in der geistigen Entwicklung immer Kinder bleiben. Durch die besseren mobilen Sozialdienste behalten Eltern ihre behinderten Kinder heute oft länger daheim. Das hat, wie die ehemalige Leiterin einräumt, nicht nur Vorteile: Viele Eltern versäumen es, ihren Kindern Grenzen zu setzen, die auch Behinderte brauchen; die Umgewöhnung auf ein Heim sei dann mitunter schwierig. Sei dies aber erst einmal gelungen, will nach ihrer Erfahrung keines der Kinder mehr von dort fort.

Inklusion ist schwierig

Selbst Urlaube am Meer oder Besuche in der Familie hätten dann keine große Bedeutung mehr, hat die 77-Jährige beobachtet. »Nur im Heim finden sie den Halt, den sie brauchen, weil sie unter ihresgleichen sind. Erst im normalen Umfeld fühlen sie sich so richtig behindert.« Das sei auch das Problem der heute propagierten Inklusion: »So dumm sind die wenigsten, um nicht zu merken, dass die anderen schreiben dürften, sie selbst aber nur malen.«

Die ausgebildete Heilpädagogin hat, so zärtlich und liebevoll sie mit den behinderten Menschen umgeht, zugleich einen wohltuend pragmatischen Blick auf sie. Sie weiß: Emotionalität allein hilft nicht dabei, einen erschwerten Alltag zu bewältigen, individuelle Bedürfnisse wahrzunehmen und zugleich die Bedingungen für eine funktionierende Gruppe zu schaffen – zumal eine derart sensible. Dazu gehört auch hier mehr als nur Streicheleinheiten.

Etwa 60 Bewohner mit unterschiedlichem Behinderungsgrad leben zurzeit im »Sonnenhaus«. Manche werden unter der Woche zum Arbeiten in die Lebenshilfe nach Forchheim gefahren; andere können nur mit einfachsten Dingen im Heim beschäftigt werden. An den Wochenenden stehen Ausflüge in die Umgebung an. Der »Methusalem« des Heims ist übrigens Robert: 86 Jahre alt und von Anfang an im »Sonnenhaus«, als es noch in Fürstenwalde bei Berlin stand.

Viel Sonne also auf dem Störnhofer Berg. Aber doch zum Schluss die Frage: Ist sie nicht auch schwierig, die jahrzehntelange Arbeit mit Behinderten? Ilse Hoecke-Lauermann überlegt kurz, dann sagt sie: »Für manche ja, für mich nicht.« Das Heim ist nicht nur das Zuhause der behinderten Menschen, es ist auch ihres. Ein Glücksfall, für beide Seiten.

Text: Tamara Dotterweich

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