Mit alten Büchern ist es wie mit alten Menschen. Man sieht ihnen die Lebenserfahrung an. Manche sind geknickt. Manche wirken wie neu. Außerdem geht es alten Büchern häufig so wie vielen alten Menschen: Niemand weiß, wohin mit ihnen.
Sie haben ihren Dienst getan. Man hat Beziehungen zu ihnen entwickelt. Oft sind diese Beziehungen voller Gefühle. Man kann alte Bücher mit ähnlicher Zärtlichkeit anschauen wie alte Menschen. Und trotzdem weiß man, dass man sich von ihnen trennen muss. Obwohl es doch nur Gegenstände sind, gibt es Hemmungen, sie einfach auf den Müll zu schmeißen. Vielleicht weil man sie zu oft mit Händen und Augen gestreichelt hat.
Diese Beschreibung ist eine Momentaufnahme. Kommende Generationen werden die persönliche Bindung an Bücher wahrscheinlich nicht mehr kennen. Wenn man auf dem E-Book liest, auf einem Display also, das schon haptisch ganz anders wirkt als eine Papierseite, kommen keine Sentimentalitäten auf. Ein Text füllt keinen Raum mehr wie ein Buch. Mit Abschalten des Geräts ist er zumindest für den Augen-Blick gelöscht. Er macht in keinem Regal auf sich aufmerksam. Er riecht nicht und vergilbt nicht. Viele sogenannte »Digital Natives« (aufgewachsen mit papierlosen Medien) träumen davon, sich selbst eines Tages in den Computer zu laden. Bücher, die man ja irgendwie als Lebewesen betrachten kann, gehen ihnen voraus.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch gibt es Bücher, noch werden sie alt. Früher war es möglich, dass sie mit dem Alter sogar ihren Wert steigerten. Sie kamen in Antiquariate und wurden teuer verkauft. Das ist heute nur noch bei größten Raritäten möglich, bei besterhaltenen Erstausgaben aus vergangenen Jahrhunderten vielleicht. Im 20. Jahrhundert ist der Büchermarkt zu einem Massenmarkt geworden. Bücherklubs haben aus dem Lesen eine Volksleidenschaft gemacht. Mit den gestiegenen Auflagen wurde der Wert der einzelnen Exemplare geringer. Versuchen Sie heute einmal, ihre Ausgaben aus der Bertelsmann-Bücherei in einem Modernen Antiquariat loszuwerden. Womöglich einen Titel von Konsalik oder Simmel. Der Antiquar wird Sie mit Gesten größter Abwehrbereitschaft davonschicken.
So wie Norbert Walden es praktiziert, wenn bei ihm Ankaufstag ist. Walden führt das Moderne Antiquariat »music-andbooks« in der Nürnberger Jakob-straße. »Früher sind Bücher besser gegangen«, sagt er. »Jetzt bringen DVDs und CDs mehr als Bücher.« Dabei sind auch das im Zeitalter des »Streaming« (gleichzeitiges Laden und Wiedergeben im Internet) rasch alternde Medien. Norbert Walden hat viel Erfahrung, denn er betreibt das Geschäft mit den Antiquitäten seit den 1970-er Jahren. »Zuerst habe ich alles genommen. Da gab es noch keine Computer zum Nachschauen, was die Ware tatsächlich wert ist auf dem Markt. Heute sehe ich sofort: Was ist alt und verkauft sich; worauf bleibe ich sitzen? Aktuelle Belletristik zum Beispiel altert sehr schnell und ist kaum etwas wert. Mit Fachbüchern ist das anders. Da gibt es Sammler – etwa von Büchern über Eisenbahnen oder Motorräder. Auch Comics geben was her. Trotzdem verlagert sich der Markt heute ins Internet. Und da kommt es häufig zum rapiden Preisverfall. Den kann der stationäre Handel nicht aufhalten.«
Norbert Walden selbst möchte die Bücher in seinem Laden aber nicht missen. Er sagt: »Ich habe immer gern gelesen und schließlich davon profitiert. Meine Beziehung zu Büchern hat sich gerechnet. Mein Horizont ist enorm erweitert worden. Aber im Geschäft sind Bücher eigentlich nur ein Zubrot.«
Es sind letztlich also auch sentimentale Gründe, weshalb sich der Händler nicht ganz vom Angebot der »Printmedien« trennen mag. Bücher haben etwas Irrationales. Es sind alte Freunde. Das haben viele Hörer erzählt, als der Bayerische Rundfunk kürzlich sein mittägliches »Tagesgespräch« dem Thema widmete, wo es denn hingehen soll mit den alten Büchern. Deswegen funktionieren so viele Umgangsformen mit ihnen, die sonst lächerlich erscheinen würden. Zum Beispiel das »Aussetzen« von Büchern, das manche betreiben. Sie lassen ganz bewusst ein Buch in der Straßenbahn oder auf einer Parkbank liegen, damit es eine Odyssee durch neue Hände antritt.
Die Bürgerstiftung Nürnberg hat Öffentliche Bücherschränke eingerichtet. In der Veit-Stoß-Anlage in Gostenhof steht einer, ein anderer vor dem Gemeindezentrum St. Ludwig in Gibitzenhof. Hier kann man Bücher einstellen und entnehmen. Es herrscht das Tauschprinzip. Und das kann nur glücken, weil Bücher für viele (noch!) einen immateriellen Wert über den bloßen Marktwert hinaus besitzen. Sie sind Träger von Wissen. Sie vertreiben die Zeit. Ja, sie versetzen Leser in andere Zeiten, in andere Geschichten. Vielleicht versucht man im Café des Nürnberger Literaturhauses die ausliegenden Bücher deswegen doch noch mit der Aufforderung zu schützen, sie möchten vor Ort gelassen werden.
Schließlich tun alte Bücher noch Gutes. Man kann sie hilfreichen Institutionen zur Unterstützung ihrer Aktivitäten spenden. Viele kennen den Nürnberger Bücherladen des Roten Kreuzes in der Sulzbacher Straße. Dort kann man den eigenen Lesedurst für wenige Cent stillen und handelt dazu noch sozial.
Anders funktioniert das Projekt Bücherkiste, mit dem die Lebenshilfe Nürnberg arbeitet. Es basiert auf einem Franchise-Konzept. Der Franchise-Geber stellt eine Software für den Internet-Buchhandel zur Verfügung, die von der Lebenshilfe als Franchise-Nehmer genutzt wird, um Gewinn zu machen und Arbeitsplätze für Behinderte zu schaffen. Roberto Rotella ist Betriebsleiter des Projekts. Er bildet zwölf Mitarbeiter an PC-Arbeitsplätzen aus. Die dürfen sich mit dem erworbenen Wissen auf dem Arbeitsmarkt bewerben. Bücherspenden können in der Fahrradstraße 54 abgegeben werden. Im Umkreis von fünf Kilometern werden sie sogar abgeholt. Es sollte sich um Bücher im guten Zustand handeln, die man im Internet-Handel anbieten kann. Dafür müssen sie bestimmten Kriterien genügen. Die werden in der Bücherwerkstatt überprüft. Man sortiert. Und die geeigneten Produkte sind dann zum Beispiel bei Amazon in der Kategorie »Gebrauchte Bücher« zu erwerben. Die anderen gehen auf Flohmärkte.
Für die Lebenshilfe geht es mit dem Sammeln und dem Verkauf von Büchern um Ausbildung und Beschäftigung von Behinderten. Vom Gewinn werden die Arbeitsplätze bezahlt. Zum Gewinn tragen auch neue Kreationen aus alten Büchern bei. Möbel entstehen daraus und werden in den Handel gebracht. Roberto Rotella sagt, dass seit Februar 2015, als die »Bücherkiste« der Lebenshilfe in Nürnberg geöffnet wurde, rund 25.000 Bücher umgeschlagen wurden. Etwa 4.100 davon stehen derzeit als Kapital und Ware im Internet.
Sie sind also nicht wirklich wertlos – unsere alten Freunde mit den vielen Buchstaben. Aber ist das ein Trost, wenn man sich von ihnen trennen muss, weil man vielleicht in ein Seniorenheim zieht? Zu vielen hat man eine ganz persönliche Beziehung, liebt besondere Sätze, hat zu speziellen Zeiten Markierungen gemacht, hat sie geschenkt bekommen von einem Menschen, den man gern noch um sich hätte. Manchmal streichelt man ihre Rücken im Regal. Und es zerreißt einem (beinahe) das Herz, wenn sie gehen müssen.
Herbert Heinzelmann