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Todesanzeige und persönliche Betroffenheit

vignette2012xHello all, irgendwann habe ich angefangen, verhohlen Todesanzeigen zu beachten, schließlich zu lesen. Mit Erleichterung, wenn ich sehe, dass da jemand ein sattes Leben hinter sich gebracht hatte;mit Beklemmung, wenn es einen wesentlich Jüngeren erwischt hatte; arme Socke. Doch echte Betroffenheit beschleicht mich, wenn ich mein eigenes Geburtsjahr sehe: 1949. So wie vor ein paar Tagen auf Lamma Island, einer der westlichen Inseln Hong Kongs. Ich stapfte entlang eines stillen, von mächtigen Bambusstauden gesäumten Fußwegs von Yung Shue zum Fischerdorf Luk Chow, als ein taoistischer Friedhof in einer Lichtung lag. Während ich noch das harmonische Ensemble aus geschwungenem Tor, grünen Dachziegeln, schlichten Nischengräbern entlang der Mauer und die Ästhetik der in Gold gefassten chinesischen Kaligraphien auf den Platten bewunderte, fiel mir die Inschrift auf „Gerd Balke 1949- 2000“. In Gold, wie alle anderen, aber in westlicher Schrift. Ohne andere Angaben. Was hatte seine Asche dorthin gebracht? Zurück, recherchierte ich im Internet. Ein deutscher Bauingenieur, der in den siebziger Jahren für ein Bauvorhaben nach Hong Kong geschickt worden war. Eine Chinesin heiratete und blieb. Dem Tumult auf den Baustellen entfloh und sich zunächst, in die Fischerstadt Ap Lei Chau, dann auf die ruhigeren Inseln absetzte. Er wurde Schriftsteller und verschmolz mit seiner neuen Heimat. Sein schriftstellerischer Erfolg („Skull Dance“, „Paradise Fermenting“) kam spät, aber zu Lebzeiten. Noch bevor das breite Publikum ihn schätzte, fand er Anerkennung beim lokalen Autorenverband, noch mehr bei den Einheimischen seiner Nachbarschaft. Die nannten ihn respektvoll den „weißen Chinesen von AP Lei Chau“ . Er sprach fließend die lokalen Dialekte und wandte sich dem Taoismus zu. Ein Infarkt riss ihn mit knapp 50 vom vermutlichen Höhepunkt seines Lebens.
Kein schlechtes Leben. Voller unverhoffter Wendungen; offensichtlich hatte er seinen Weg gefunden, wohl gelitten, geliebt und zunehmend öffentlich anerkannt. Was eigentlich kann man mehr erwarten? Ist 50 Jahre zu früh? Heute mit 65, hätte er auch noch Spaß am Leben; war mein Jahrgang gewesen. So, wie er gelebt hatte, sogar sicher. Tao, die alte „Lehre vom rechten Weg“, hätte vermutlich eine gute Antwort für ihn. Ich war zum ersten Male nicht mehr so betroffen, bei diesem 1949 -….
Ihr Global Oldie

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