Rede des Bundespräsidenten auf dem 10. Deutschen Seniorentag
Es ist schön zu sehen, wie viele Menschen hier zusammengekommen sind, um miteinander „Ja zum Alter“ zu sagen. Ich stehe heute vor Ihnen als Verbündeter, als einer, der hoffentlich bald dreifacher stolzer Urgroßvater sein wird, der gerade mit 72 Jahren eine ganz neue, schöne und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte, der Hoffnungen und Pläne hat und das Motto dieses Seniorentages ganz persönlich lebt. „Ja zum Alter“ – aber muss das eigens betont oder gar eingefordert werden?
Dass wir altern, ist ja nicht neu. Seit Menschengedenken fragen wir uns, was das Alter uns bringen wird. Platon in seiner „Politeia“, Cicero in seinem fiktiven Dialog „Cato der Ältere über das Alter“, Jacob Grimm in seiner „Rede über das Alter“ oder Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“: Sie alle und noch viele andere haben sich mit dem Altern und seinen Folgen beschäftigt.
Neu ist, dass so viele von uns um so viel älter werden – eine rasante Veränderung, die seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gange ist. Welch ein Segen für die, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel und sogar Urenkel aufwachsen sehen dürfen! Historisch neu ist auch, dass ein materiell abgesicherter Lebensabend nicht mehr nur Privileg von Wenigen ist. Welch ein Glück, wenn man etwas mit seinem Leben anzufangen weiß! Und welch ein Gewinn, wenn wir mit den geschenkten Jahren auch als Gesellschaft gut umzugehen lernen!
Das „wenn“ ist wichtig. Denn mit dem Altern verbinden sich auch viele Befürchtungen: Da ist die Sorge, dass unserer Gesellschaft die Ideen ausgehen, dass die Netze der sozialen Sicherung zerreißen und die Kosten für Pflege und Gesundheit explodieren könnten. Da ist die Angst vor Armut im Alter, vor Einsamkeit und davor, ein „Pflegefall“ zu werden – was für ein schreckliches und auch verräterisches Wort – ist das, was einst ein Mensch war, dann nur noch ein „Fall“, Pflegefall eben?
So berechtigt die Befürchtungen im Einzelnen sind – wir dürfen uns von ihnen nicht überwältigen und vor allem: nicht einschüchtern oder ängstigen lassen. Wir sollten sie als Anstoß nehmen, die Dinge anders und besser zu gestalten. Die höhere Lebenserwartung ist uns schließlich auch nicht einfach in den Schoß gefallen, sie ist erarbeitet, manchmal auch erkämpft worden. Sie ist eine Leistung unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir leben gesünder, wir bekämpfen erfolgreich viele Krankheiten, wir arbeiten sicherer. Und so liegt es jetzt auch in unserer Verantwortung, das längere Leben zu einem Gewinn für alle zu machen. Und dort, wo aus Krankheitsgründen von Gewinn nicht mehr gesprochen werden kann, soll es uns jedenfalls darum gehen, vom Wert und auch der Würde derer zu sprechen, die dieses für sich selbst nicht mehr reklamieren können.
Die gewonnenen Lebensjahre im Alter schenken uns Freiheit: die Freiheit, von vielen äußeren Zwängen entlastet unsere Fähigkeiten weiter zu erproben und weiterzugeben. Sie geben uns zugleich eine Verantwortung auf: die Verantwortung, unser Leben, solange irgend möglich, selbst zu gestalten und unsere Fähigkeiten so einzusetzen, dass das individuelle Glück des längeren Lebens auch ein Glück für das Gemeinwohl bleibt. „Ja zum Alter“ heißt für mich also: „Ja“ zum eigenverantwortlich gestalteten Leben, und „ja“ zu den Veränderungen, die wir dafür als Einzelne und als Gesellschaft anstoßen müssen.
Das schulden wir gerade auch den Jüngeren, unseren Enkeln und Urenkeln. Was wird sie erwarten, wenn sie erwachsen sind? Wie sollte es aussehen, ihr Land – ein Land, in dem alle Lebensalter menschenwürdig und verantwortlich zusammenleben?
Eines sollten wir auf jeden Fall begriffen haben: Das Alter gibt es nicht, ebenso wenig wie die Alten. Den einen versagen schon mit Mitte 60 die geistigen oder körperlichen Kräfte, die anderen können noch mit über 90 völlig klar denken und sich selbst versorgen. Wir altern so individuell, wie wir unser Leben führen, und so gut, wie es unser Schicksal erlaubt. Ebenso wenig gibt es den Rentner oder die Rentnerin. Manche sind kinderlos, andere haben Enkel oder gar Urenkel, die einen sind lebensfroh, die anderen frustriert. Manche können ihren Lebensabend in Wohlstand genießen, andere beziehen Renten, die kaum zum Leben reichen. Manche übrigens trotz eines Lebens voller Arbeit.
In ihrer Gesamtheit aber ist die heutige ältere Generation die wohlhabendste und gesündeste, die es in Deutschland je gegeben hat.
Und darum sollten wir es – zweitens – geschafft haben, Anspruch und Wirklichkeit aneinander anzupassen: unsere Ansprüche an den Ruhestand, unsere Vorstellungen davon, wann er beginnt und was wir mit dieser Zeit anfangen, mit der Wirklichkeit der hinzugewonnenen Jahre. Das ist u. a. auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft. Es ist nötig, um die Errungenschaft des Ruhestandes auch kommenden Generationen zu erhalten. Aber vor allem ist es in unserem eigenen Interesse.
Wir wissen doch, wie glücklich es macht, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und etwas erreichen können. Ich bin überzeugt, dass wir gestalten können und müssen, damit es uns gut geht. Und ich glaube fest daran, dass wir Menschen lern- und begeisterungsfähig sind bis ins hohe Alter – da weiß ich auch die Wissenschaft an meiner Seite, Stichwort „Plastizität des Gehirns“. Hannah Arendt hat einmal gesagt, „Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.“ Das ist die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen sollten!
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die von uns Älteren erwartet, veränderungsbereit zu sein, die uns die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen gibt, und damit die Grundlage, lebenslang tätig zu bleiben. „Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung“, so heißt es schon in Goethes „Wilhelm Meister“. Das mag manchem Bild vom Ruhestand widersprechen. Aber ist es nicht im Grunde viel kraftraubender, wenn man sein Leben nur auf eine Tätigkeit ausrichtet, und mit der dann schlagartig aufhören soll, auf Kosten der Vielfalt an Fähigkeiten, die in jedem von uns steckt? Wie viele geraten in eine regelrechte Krise, wenn plötzlich Anerkennung durch Arbeit und Leistung und damit oft auch das soziale Umfeld wegbrechen.
Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können – unter besseren Bedingungen täten das heute schon viele gern. Ich wünsche mir, dass wir individuelle Übergänge ermöglichen: zwischen den Lebensphasen und zwischen unterschiedlichen Arten des Tätigseins. Ich wünsche mir, dass wir Älteren eine Chance geben, sich weiter zu entwickeln, ihnen Achtung und Wertschätzung entgegenbringen und ihren Bedürfnissen pragmatisch entgegenkommen.
Gewiss ist es nicht jedem vergönnt, bis ins hohe Alter tätig zu bleiben. Es gibt Krankheiten, Schicksalsschläge. Deshalb wünsche ich mir auch: Niemandem sollte Unzumutbares zugemutet werden. Aber das Zumutbare schon, zumal wenn es sich mit dem Erwünschten deckt. Und ich rede auch nicht allein vom Broterwerb, sondern bewusst von Tätigkeit.
Warum, so werden mich meine Urenkelkinder vielleicht fragen, hattet Ihr früher Euer Zusammenleben eigentlich so eingerichtet, dass den Jüngeren oft die Zeit gefehlt hat – und vielen Alten die Decke auf den Kopf gefallen ist? Und sie hätten Recht. Warum teilen wir all diese Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, nicht besser zwischen den Generationen und Geschlechtern – die Sorge um Kinder oder ältere Angehörige, die Arbeit im Haushalt, das Engagement in der Nachbarschaft, in der Zivilgesellschaft und in Ehrenämtern? Je selbstverständlicher wir schon in unseren jungen Jahren zwischen all diesen Sphären wechseln, desto selbstverständlicher wird es uns auch im Alter sein, nicht nur für uns, sondern auch für andere tätig zu bleiben.
Dafür gibt es schon heute gute Ansätze. Immer mehr Bürgerstiftungen organisieren Gemeinsinn und bieten die Plattform, mit seinem Geld und seiner Zeit Sinnvolles fürs Allgemeinwohl zu leisten. Leihomas oder -opas sind eine Antwort darauf, dass die Großeltern oft nicht am selben Ort leben – und manche Ältere gar keine eigenen Enkelkinder haben. Senior Experten teilen ihr Wissen mit den Jüngeren. Immer öfter ziehen Ältere und Jüngere, Familien und Singles bewusst zusammen, weil sie einander helfen und ergänzen wollen. In Seniorengenossenschaften – wie der im baden-württembergischen Riedlingen, die es seit über zwanzig Jahren gibt – helfen die, die noch können und rüstig sind, denen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, gegen ein kleines Entgelt oder das Versprechen, dass ihnen selbst später von anderen geholfen wird. Und es spricht vieles dafür, dass wir im mittleren Alter anderen das geben, was wir uns selbst fürs hohe Alter wünschen – Zuwendung, liebevolle Pflege bei weitestgehender Autonomie.
Selbstverantwortung ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Wir wissen aber natürlich auch, dass ein Moment kommen kann, in dem wir nur noch sehr bedingt selbst steuern können, was mit uns passiert. Diese Lebensphase zu akzeptieren als eine, in der die gewohnten Kategorien von Selbstverantwortung, Leistung und Nützlichkeit nicht mehr zählen – ja nicht mehr zählen dürfen – ist eine der großen Herausforderungen. Hier wird sich die Menschlichkeit unserer alternden Gesellschaft erweisen.
Wir alle werden hier sehr viel neu oder wieder neu lernen müssen, denn es wird nicht ohne die Haltung von Barmherzigkeit – oder nennen Sie es Solidarität miteinander – gehen. Vielen Menschen sind solche Werte in ihren beruflichen Lebensläufen abhanden gekommen. So müssen wir zum Teil wieder erlernen, was wir eventuell früher gewusst, aber dann verlernt haben bei unseren mannigfachen Formen von Egotrips oder unter unsozialen Arbeitsverhältnissen.
Eine weitere Herausforderung ist, zukunftsfähig zu bleiben. Früher hieß es, wir müssten die Alten fürchten, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben – heute fürchten viele eher die Angst der Alten vor dem Neuen. Doch der Unmut der Älteren muss uns nur dann Sorgen machen, wenn er sich aus einer generellen Ablehnung jeglicher Veränderungen speist – oder aus rein egoistischen Motiven. Die meisten Älteren aber sind nicht einfach nur „Wutbürger“. Sie nehmen eine ganz wichtige Verantwortung wahr: kommenden Generationen ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen. Es ist wichtig, ihre Stimme zu hören und abzuwägen: Was ist es wert, bewahrt zu werden gegen den Furor des Fortschritts – und was muss sich wirklich verändern? Und es ist gut, wenn möglichst viele der Älteren interessiert sind und bleiben. Denn wer interessiert ist, ist dazwischen, mittendrin, bringt sich ein.
Wie gut es gelingt, dieses Interesse wach zu halten, wird auch die Zukunft unserer Demokratie mit beeinflussen. Franz Müntefering hat einmal den schönen Satz gesagt: „Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich.“ Und zwar nicht nur für das, was uns jeweils ganz persönlich betrifft, sondern auch für das, was nach uns kommt, was wir weitergeben an unsere Kinder und Enkel. Ich bin sicher, Sie, meine Damen und Herren, leben genau diese Verantwortung, deshalb sind Sie hier, und ich danke Ihnen dafür.
Mir ist darum nicht bang, meinen Urenkeln sagen zu können: Wir werden das schaffen. Wir werden den Gewinn an Lebenszeit besser teilen – zum Vorteil der Alten wie der Jungen, zum Vorteil der Gesellschaft wie des Einzelnen. Wir werden das Alter als eine besondere Phase unseres Lebens schätzen und diese verantwortlich gestalten. Wir werden erkennen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Gesellschaft des langen Lebens nur dann bedrohlich sind, wenn zu starr an den bisherigen Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festgehalten wird.
Wenn wir viele sind, die so denken, dann wird auch das Loslassen einst, wenn die Kräfte schwinden, uns keine Angst machen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Menschen, die von dem Geschenk des Alters sprechen können. Vor etwas über hundert Jahren schrieb Rainer Maria Rilke an einen Freund: „Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Alt-Werden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein.“ Welch eine Eloge auf die Möglichkeiten des Alters!
Wir alle haben nicht die poetischen Gaben eines Rainer Maria Rilke. Aber wir hatten und haben einen Schatz an Erfahrungen, Wissen, erworbene Geduld und erhalten gebliebene Ungeduld, wir haben nicht die alte, aber die uns jetzt mögliche Fähigkeit, Verantwortung zu leben. Und mit alledem kann es uns gelingen, unser „Ja zum Alter“ zu sprechen, zu leben.