Wir wollen mitmischen, wir wollen uns einmischen«, hat Ursula Wolfring, die erste Vorsitzende des Nürnberger Stadtseniorenrats, bei der Gründung vor 30 Jahren angekündigt. Heuer feiert das Lobby-Gremium für die Generation 60plus einen runden Geburtstag. Im Interview mit sechs+sechzig spricht Christian Marguliés über Erfolge, was noch zu bewegen wäre und darüber, ob das Mitmischen auch wirklich klappt. Marguliés (73), der in seinem Berufsleben unter anderem Marketing-Direktor bei Quelle und selbstständiger Unternehmensberater war, leitet seit zwölf Jahren den derzeit 58-köpfigen Rat.
sechs+sechzig: Herr Marguliés, Sie vertreten mit dem Stadtseniorenrat die Interessen von rund 150.000 Nürnbergerinnen und Nürnbergern über 60 Jahre, also fast einem Drittel der hiesigen Bevölkerung. Die Leiterin des Seniorenamtes, Anja-Maria Käßer, bezeichnete Sie einmal als einen ihrer wichtigsten Ansprechpartner in der Stadtgesellschaft. Erleben Sie bei allen Dienststellen so viel Rückhalt?
Christian Margulies: Im Großen und Ganzen schon. Es gibt natürlich einzelne Bereiche, in denen man nicht so direkt an uns denkt, aber zu 80 bis 90 Prozent kennt man uns sehr gut bei der Stadt und den Wohlfahrtsverbänden. Wo es dagegen nicht so gut aussieht, ist unsere Zielgruppe selbst. Da ist unser Bekanntheitsgrad nicht so hoch. Wir haben leider keine Werbegelder, mit denen wir gezielt an die Öffentlichkeit herantreten können.
Was tun Sie, um dennoch ins Blickfeld zu geraten?
Wenn wir von der Verwaltung mal vergessen worden sind, dann stupsen wir an, wie zum Beispiel zuletzt bei der Umgestaltung des Obstmarkts und der neuen Verkehrsführung der VAG. Da sind die Älteren und ihre Belange nicht so eingebunden worden, wie wir uns das vorstellen, und darauf haben wir hingewiesen. Jetzt wird geprüft, ob es einen Ruftaxi-Dienst geben kann, solange die Bushaltestelle an der Spitalgasse nicht angefahren wird. Aber für viele Ältere ist das auch schon wieder eine Barriere, weil nicht jeder ein Handy oder die Nummer parat hat.
Der Stadtseniorenrat ist im Internet als Unterseite der Website der Stadt beim Seniorenamt zu finde n. Dort gibt es keine Informationen über ihre aktuelle Arbeit oder Projekte. Haben Sie Pläne, das zu verändern?
Wir arbeiten momentan stark an der Überarbeitung unserer Website. Wichtig wäre sicher auch, dass wir auf Social Media aktiver wären, aber das müssen Sie kontinuierlich begleiten, und das ist mit einem rein ehrenamtlichen Gremium nicht so einfach. Wir sind deshalb darauf angewiesen, dass Medien unsere Anliegen verbreiten. Mit unserem Einsatz für eine bessere ÖPNV-Anbindung des Obstmarkts während der Umgestaltung und dem Friedhofs-Shuttle, den wir vor zehn Jahren ins Leben gerufen haben und der jetzt wieder fährt, hatten wir eine sehr gute Presse. Dafür sind wir sehr dankbar. Unser Budget beläuft sich auf nur 12.000 Euro pro Jahr, und das verwenden wir zum großen Teil für Info-Broschüren. Plakatwerbung oder Ähnliches können wir uns nicht leisten.
Der Stadtseniorenrat hat im Stadtrat und seinen Ausschüssen ein Rederecht, und Ihre Expertise wird angefragt. In Ihrem Gremium sind viele Berufsgruppen vertreten, die Leute bringen sehr viel Erfahrung mit. Gibt es nicht noch mehr Ansatzpunkte, um Stadträten mit Knowhow behilflich zu sein?
Mit dem Stadtrat und den Fraktionen führen wir regelmäßig Gespräche und informieren zweimal im Jahr über unsere Projekte. Aber noch ergiebiger ist eigentlich, dass wir auf dem kleinen Dienstweg mit den Fachverantwortlichen sprechen, wenn es zum Beispiel um das Thema Wohnen geht.
Der Stadtseniorenrat ist vor 30 Jahren gegründet worden, um den Älteren ein Sprachrohr zu geben. Die Vorsitzende war damals Ursula Wolfring, die ja auch Schirmfrau von sechs+sechzig war. Sie sagte uns einmal, »Senioren», das sei ein schreckliches Wort, das klinge so verzopft. Dabei heißt Ältersein immer auch, sich zu interessieren, sich einzusetzen, dazuzulernen. Ist das ein Leitsatz, der diese 30 Jahre getragen hat, oder sehen Sie heute ganz andere Ziele?
Wir haben mit der Zeit unsere Ziele angepasst und die Vision erarbeitet, dass Seniorinnen und Senioren sich sicher und wohl in dieser Stadt fühlen. Das ist heute der große Leitsatz, und daraus abgeleitet haben wir dann unsere Jahresplanung entwickelt. Wir gehen pro Jahr zirka 50 Projekte an, die Ideen dazu kommen aus unseren fünf Arbeitskreisen Wohnen, Kultur, Sicherheit und Verkehr, Gesundheit und Öffentlichkeitsarbeit. Aktuell haben wir zum Beispiel geplant, im Vorfeld der Kommunalwahl Wahlprüfsteine zu seniorenpolitischen Themen an die Stadtratsfraktionen zu versenden, damit sich die Älteren ein Bild davon machen können, wer ihre Interessen am besten vertritt.
Das heißt, das Sprachrohr zu sein, steht gar nicht mehr im Vordergrund?
Doch, das sind wir nach wir vor. Aber wir haben auch längerfristige Themen, wie etwa die Transformation in der älteren Generation. Die Hälfte hat die digitale Transformation bewältigt, die andere nicht. Für uns geht es darum, die eine Hälfte zu pushen, die andere aber nicht zu vergessen. Praktisches Beispiel sind die Überweisungen bei Banken. Viele haben händeringend nach Überweisungsträgern gesucht, die sie noch ausfüllen können, nachdem sie bei manchen Banken fast abgeschafft wurden. Solche Themen werden oft an uns herangetragen, und das greifen wir gerne auf.
Ist das nicht ein Widerspruch: Die ältere Generation ist in der Mehrheit der Gesellschaft und trotzdem braucht sie eine starke Lobbyarbeit, damit alltägliche Probleme angegangen werden?
Das widerspricht sich für mich gar nicht, das finde ich ganz normal. Politik ist sehr stark Lobbyarbeit. Die am lautesten schreien, werden am besten gehört. Die mittleren Generationen, die noch mitten im Berufsleben sind, stehen im Vordergrund. Die Senioren sind leiser und zurückhaltend. Weil wir Älteren leise sind, manchmal zu leise, verschaffen wir uns nicht genügend Gehör. Wir müssen manchmal darauf hinweisen, wie viel Prozent der Wahlbevölkerung wir vertreten. Ich gebe Ihnen noch ein konkretes Beispiel: Als der Friedhofsshuttle am Südfriedhof wegen Personalmangels eingestellt worden ist, da haben sich einzelne Leute bei der Stadt beschwert. Die Beschwerden kamen dann auch bei uns an, und wir haben schließlich erreicht, dass der Shuttle doch wieder fährt. Da konnten wir das Sprachrohr sein, das manchmal notwendig ist.
Das ist eine schöne Rückmeldung für Sie, dass der Stadtseniorenrat bei den Stellen der Stadt auf Widerhall trifft und dass die Anliegen entsprechend ernsthaft behandelt werden.
Ich möchte da keine Namen nennen, aber es gibt in einzelnen Referaten nicht ganz so den Rückhalt. Da wird dann auch mal flapsig etwas abgetan. Aber insgesamt werden wir sehr ernst genommen. Unserem Oberbürgermeister Marcus König haben wir das Antragsrecht zu verdanken, das wir vorher noch nicht hatten. Wir können über den OB Anträge stellen, die dann an die zuständigen Referate weitergeleitet werden, mit der Bitte um entsprechende Behandlung im Ausschuss. Das Antragrecht beinhaltet auch, dass die Anfrage innerhalb von neun Monaten beantwortet werden muss.
Das ist sozusagen die Hotline ins Rathaus, wenn sie Themen über den Oberbürgermeister direkt einbringen können.
Wir nutzen das nur sehr gezielt. Es gibt auch die Möglichkeit, über die Fraktionen ein Thema voranzubringen. So war das beim Thema Weltseniorentag, der am 1. Oktober begangen wird und über den wir bei der SPD-Fraktion gesprochen haben. Daraus hat die SPD einen Antrag gemacht. Das war das erste Mal, dass der Stadtrat einen Beschluss für den Stadtseniorenrat gefasst hat.
Den Weltseniorentag gibt es schon lange, seit 1990, aber im vergangenen Jahr haben Sie erstmals sichtbare Aktionen an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden lassen.
Die beiden Sprecherinnen unseres Arbeitskreises Kultur haben mich vor eineinhalb Jahren gefragt, was eigentlich die Stadt zum Weltseniorentag macht. Da habe ich gesagt: meines Wissens nichts. Das war die Initialzündung zu sagen, dann machen wir etwas.
Was wollten Sie damit erreichen?
Uns geht es darum, dass wir an unsere Zielgruppe besser herankommen. Wir haben dann mal herumgefragt beim Landesseniorenrat und bei der Landesseniorenvertretung, was die zum 1. Oktober machen. Da stellten wir fest: Da macht fast keiner was dazu, in ganz Bayern nicht. Das ist natürlich ein Thema, denn damit kommen wir mehr in die Presse, wenn wir das gemeinsam mit anderen Kommunen tun.
Dazu müsste es in allen Städten einen Seniorenrat geben, davon sind wir noch weit entfernt. Das ist auch ein Ansinnen der Staatsregierung, die per Gesetz den Landesseniorenrat neu geschaffen hat, auch, um für eine flächendeckende Struktur zu sorgen.
Glücklich sind wir mit diesem Gesetz nicht, weil es bei Weitem nicht die Aufgaben erfüllt, die wir uns vorstellen würden. Das ist viel zu kompliziert und geht uns zu sehr über das Sozialministerium. Wir waren in den vielen Jahren, in denen wir mit der Landesseniorenvertretung zusammenarbeiten, viel freier im Handeln.
Ein drängendes Thema für die Älteren ist bezahlbarer Wohnraum. Warum macht Ihr Gremium das nicht zum Thema?
Das ist für uns ein Thema, aber eben ein sehr langfristiges. Das kriegen Sie so schnell nicht durch. Städte wie Ulm oder Wien zum Beispiel haben über Jahrzehnte eine andere Politik betrieben, indem sie Wohnungen und Grundstücke angeschafft oder behalten haben, die auch in städtischem Besitz bleiben, wenn die Bewohnerin oder der Bewohner gestorben ist. Aber von einer solchen Vision muss man erst einmal den ganzen Stadtrat überzeugen.
Warum versuchen Sie nicht, das bei den Stadträten zum Thema zu machen?
Das tun wir, aber bei den visionären Themen macht man die Erfahrung, dass man sich sehr schwertut, wenn sie über eine Wahlperiode hinausgehen. Die werden dann nicht aufgegriffen. Bei unseren Wahlprüfsteinen haben wir uns deshalb vorgenommen, nur das abzufragen oder einzufordern, was auch wirklich in der Entscheidungskompetenz des Stadtrats liegt.
Sie haben von einigen Erfolgen gesprochen, wie bei der Busanbindung des Obstmarkts und dem Friedhofs-Shuttle. Gibt es auch Misserfolge, bei denen es nicht so lief, wie Sie sich das vorgestellt hatten?
Wir wollten zum Beispiel mal eine Musterwohnung einrichten lassen, in der sich Seniorinnen und Senioren anschauen und ausprobieren können, welche Hilfsmittel es gibt oder wie ein Sessel mit Aufstehhilfe funktioniert. Die Stadt sagt, sie hat dafür kein Geld. Und wir kriegen nicht den nötigen Drive rein, um das doch noch durchzusetzen.
Kommen wir mal auf ein anderes Thema zu sprechen: die Wahl des Stadtseniorenrats. Bisher entsenden Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Wohlfahrtsverbände, Vereine oder sonstige Einrichtungen, die etwas mit Älteren zu tun haben, Delegierte. Insgesamt sind das sieben verschiedene gesellschaftliche Bereiche, aus deren Reihen jeweils bis zu zehn Mitglieder in den Stadtseniorenrat gewählt werden. Ist dieses komplizierte Verfahren noch zeitgemäß? Die Gruppe der Seniorinnen und Senioren wird immer größer und auch selbstbewusster. Sie können sich doch anders Gehör verschaffen.
Es gibt verschiedene Formen zu wählen. In München wird direkt gewählt, aber die Beteiligung ist sehr niedrig mit rund 20 Prozent. Eine direkte Wahl ist außerdem sehr teuer. Zudem sehe ich da die Gefahr der Politisierung, so dass in die Abstimmung Parteiinteressen einfließen. Ich gebe Ihnen aber schon recht, dass das System antiquiert ist. Man muss das überdenken. Momentan ist uns noch nichts Besseres eingefallen, aber wir sind offen.
Ihr Gremium könnte maximal 70 Mitglieder haben, tatsächlich sind es nur 58. Was ist da passiert?
Zunächst ist Voraussetzung, dass die Kirchen, Wohlfahrtsverbände oder Gewerkschaften und sonstige Institutionen ihre Wahlleute bestimmen und zur Wahl entsenden. Und da müssen wir feststellen, dass das nicht in allen Institutionen, etwa bei den Kirchen, geschieht, so dass dann nicht einmal die zehn geforderten Kandidaten bei der Wahl dabei sind.
Ist man sich der Bedeutung des Stadtseniorenrats nicht bewusst? Ist es so schwer, Leute zu gewinnen, die sich einbringen möchten?
Wir hatten eine Frau, die bei uns Mitglied war und gerne weitergemacht hätte. Aber ihre Einrichtung hat es versäumt, sie als Wahlfrau zu benennen. Der Geschäftsführer kam zwei Monate nach der Wahl, da war es natürlich zu spät. Da schließt sich der Kreis zu Ihrem Gedanken, ob die Methode noch zeitgemäß ist.
Herr Marguliés, wir bedanken uns für das Gespräch.
Interview: Georg Klietz, Elke Graßer-Reitzner
Fotos: Michael Matejka, Hagen Gerullis, Stefan Hippel