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Buchtipps: Romane zum Nachdenken

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Emmett Till, dem 14-jährigen Opfer eines grausamen Lynchmordes 1955 in Money, Mississippi, sind schon einige Denkmäler gesetzt worden. Bob Dylan widmete ihm einen Song (»The Death of Emmett Till«), Filme wurden über das Verbrechen gedreht, ein Raumschiff der Science-Fiction-Serie Star Trek wurde nach ihm benannt. Und jetzt: Percival Everetts Buch »Die Bäume«. Der 1956 in Georgia geborene Autor lässt den historischen Fall 60 Jahre nach dem Tod Tills wieder auferstehen – und liefert eine brutal-komische Abrechnung mit den straflos davongekommenen Tätern beziehungsweise ihren Nachfahren, frei nach dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Es ist ein irrwitziger Krimi: In dem trostlosen Südstaaten-Kaff werden plötzlich Weiße aus der Unterschicht massakriert, mit Stacheldraht fast enthauptet. Neben ihnen liegt immer der Körper eines toten Schwarzen, der aussieht wie Emmett Till und die abgeschnittenen Hoden des weißen Opfers in der Hand hält. Noch bevor die Ermittlungen beginnen, verschwindet der tote Junge spurlos und taucht beim nächsten Mord erneut auf.

Es ist ein wüster Galopp durch literarisch raues, aber aufregendes Gelände; die drastische Gewalt, im Amerika der Rassentrennung und des Ku-Klux-Klans einst alltäglich, muss man aushalten. Everetts Figuren nehmen kein Blatt vor den Mund (»ganz nett für einen Nigger«) und machen aus ihrem rassistischen Herz keine Mördergrube. Bis Emmett Till, der Wiedergänger, auftaucht und Rache nimmt.

Toll die Figur der Mama Z., einer 100-jährigen Schwarzen, die sämtliche 7000 Lynchmorde seit 1913 akribisch in ihrem Archiv notiert hat. Was da im Rassenwahn angerichtet und kaum je juristisch verfolgt wurde, macht heute noch fassungslos. Auch Tills Mörder wurden einst von einem weißen Geschworenengericht freigesprochen. Und Carolyn Bryant, die Frau, die den Jungen damals laut eigenen Angaben zu Unrecht beschuldigte und damit seinen Peinigern auslieferte, ist nie verurteilt worden.

Am Ende des atemlosen Rachefeldzugs steht die Apokalypse. Es kann nicht anders sein.

Percival Everett, »Die Bäume«, Hanser Verlag, München 2023, 26 Euro

Viel Salz in den Augen

Ist das schon Hybris oder einfach nur schlaues Marketing? Exakt 100 Jahre, nachdem Thomas Manns »Zauberberg« erschienen ist, serviert Heinz Strunk einen »Zauberberg 2« und denkt sich nichts dabei. Die Idee habe schon länger gekeimt, und weil er selbst viel Erfahrung mit psychischen Ausnahmezuständen habe, sei aus der Davoser Lungenheilstätte, in der Manns berühmter Hans Castorp sage und schreibe sieben Jahre seines Lebens verbringt, eine zeitgenössische Kurklinik für psychisch Angeknackste geworden. Was naheliegend ist, schließlich haben Angststörungen und Depressionen die Tuberkulose als Volkskrankheit schon lange abgelöst.

Strunks Hauptperson Jonas Heidbrink, ein Mann mit diffusen Beschwerden und geringem Selbstwertgefühl, bleibt ein Jahr im sumpfigen Mecklenburg-Vorpommern; geplant waren vier Wochen. Doch die Welt draußen ist weit weg, sie lockt ihn nicht. Erst als die Klinik heruntergewirtschaftet und fast leer ist, speit sie ihn wieder aus, keinen Deut gesünder als zuvor: »Übrig bleibt ein Haufen Irrer und Bedürftiger, Verbrauchter und Versehrter, Belämmerter und Benommener.«

Patient Heidbrink, der mit 36 Jahren sein Start-Up-Unternehmen verkauft hat und sorgenfrei leben könnte, ist einer von ihnen. »Ein Pseudointellektueller, Kindergreis. Woody Allen junior, fahl, käsig, kränklich, die Augen rot und verschwommen, als hätte jemand Salz hineingestreut.«

Auch wer sich einst vor vielen Jahren durch die 1200 Seiten des Ur-Zauberbergs gekämpft und vieles vergessen hat, taucht problemlos ein in die absonderliche Strunksche Menagerie. Mit einer virtuosen Mischung aus galligem Humor und gnadenloser Präzision skizziert er den Klinikalltag, in dem Heidbrink meist für sich bleibt und Gesprächs- und Musiktherapie, Muskelentspannung und graue Gemüsesuppen über sich ergehen lässt.

Unterwegs bedient sich der Autor immer wieder an Thomas-Mann-Passagen, weist diese auch brav im Anhang aus und spinnt doch sein ganz eigenes Erzählgarn daraus. Die Seelennöte des 21. Jahrhunderts liegen auf dem Seziertisch, Heilung ist unwahrscheinlich. Heinz Strunks Griff zum Skalpell aber ist voller Mitgefühl.

Heinz Strunk, »Zauberberg 2«, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 25 Euro

Klar im Kopf Adieu sagen

Man könne sich, sagt jemand, den Tod doch nicht bestellen wie eine Pizza beim Lieferdienst. Doch Paul und Franca Salamun, 75 und 71 Jahre alt, haben ihn bestellt. Eine Sterbehilfe-Organisation wird ihnen die exakt bemessene Dosis Natrium-Pentobarbital bringen, die Zutat zu ihrem finalen Plan, von dem sich das Schweizer Ehepaar nicht eine Sekunde lang abbringen lässt. Paul hat Krebs und will sich nicht mehr operieren lassen. Seine Frau fürchtet das Alter, will mit ihm gehen. Lebenssatt sind sie, »alles gesehen, alles gelebt«, die Neugier sei ihnen abhandengekommen, heißt es.

Autor Nicola Bardola skizziert den Weg des lebensmüden, liebenden Paares ohne Dramatik und überaus lakonisch. Vielleicht ist dies die einzig mögliche Tonart, in der über ein Tabuthema gesprochen werden kann, über das sich unsere alternde Gesellschaft so schwer verständigen kann. Ob man über sein Lebensende frei entscheiden darf, ist für die Salamuns keine Frage. Und sie haben zum Glück die Möglichkeit dazu. . .

Auch die Ratlosigkeit der beiden Söhne, die als einzige in den Plan eingeweiht werden, lässt die Alten nicht zögern. Dass sie nicht nur aus egoistischen Gründen selbstbestimmt und klar im Kopf Abschied nehmen, sich nicht nur das qualvolle Greisenalter ersparen wollen, besprechen sie ganz ruhig. Es sei doch auch kein Vergnügen, die Eltern im Krankenhaus oder im Altenheim sterben zu sehen. Sie wollen nicht warten, bis die Kraft fehlt, ein Ende zu machen.

Paul, der Mathematiker und leidenschaftliche Bridgespieler, wandert mit Franca ein letztes Mal durchs verschneite Engadin, lässt sein Leben vorüberziehen, nutzt die Chance zur letzten Analyse. Mit dem geliebten Campari als Abschiedsdrink legt sich das Paar dann für immer schlafen.

Bardola wechselt nun die Perspektive, begleitet Sohn Luca, einen Komponisten, beim Versuch, die Eltern zu verstehen. Der Text wird assoziativ, Tagebuchsequenzen, schwere Träume, Mails seiner Tochter Nora, Kindheitserinnerungen flackern auf, während der Suchende alleine in den Alpen unterwegs ist. Hier tut sich einer lange schwer mit dem Erbe seiner toten Eltern.

Nicola Bardola, »Der größtmögliche Beweis für Liebe«, Nagel und Kimche Buchverlag, Hamburg 2024, 24 Euro

Auf Kur bei Muttern

Der Mann ist ein Wrack. Es kommt vor, dass er in Tränen ausbricht, wenn neben ihm eine Krankenwagen-Sirene aufheult. Berlin, nach einem Schlaganfall neuer Wohn- und Arbeitsort, wird dem Mitfünfziger zum »Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß.« Ach, man kann das Zitieren nicht lassen: »Wie ein geschmolzener Käse war ich in jede Ritze des Sofas hineingeflossen, hatte das Sitzmöbel mit mir selbst überbacken.« Joachim Meyerhoff, bekannter Schauspieler und Autor, kann wunderbar selbstironisch und saukomisch schreiben, und doch ist es ausgerechnet eine Schreibblockade, die ihn – neben dem rauen Berlin – verzagen lässt.

Da muss Mutter ran. Im sechsten Band seiner autobiografischen Reihe »Alle Toten fliegen hoch« steht diese äußerst lebendige 86-Jährige im Mittelpunkt, zu der er ein paar Wochen lang aufs Land nahe der Ostsee zieht, um wieder zu sich und zur Ruhe zu kommen. Wohl dem, der solch eine Mutter hat. Wie alle Protagonisten aus Meyerhoffs höchst origineller Familie, die man bisher lesend (und lachend) kennenlernen durfte, ist auch sie eine echte Type. Sie liebt Currywurst, säuft Whisky und fährt Auto wie eine gesengte Sau. Mit den Malaisen ihres Sohnes geht sie eher nonchalant um. Er muss im Garten arbeiten, mit ihr in der kalten Ostsee schwimmen. Bemuttern ist nicht, Weinerlichkeit wird nicht akzeptiert. Als er vor einer Lesung mit einer Angststörung zusammenbricht, übernimmt sie kurzerhand den Auftritt. Das Publikum ist begeistert.

Dass Meyerhoff, der Legastheniker, schon mit sieben feste geschrieben hat, belegt ein vollgekritzeltes Schulheft, das als Faksimile mit im Buch steckt (»Der Fisch, der vile Freinde hatte«). Dass er nach der erfolgreichen Mutter-Kur weiterschreiben wird und kann, deutet sich zum Glück an. Er solle doch, sagt die alte Dame, über sie schreiben. Dabei bleibt es nicht, Schulgeschichten und Rückblenden aufs Bühnenleben kommen dazu. Er wird kündigen beim Theater, beschließt der Autor, das Korsett des festen Engagements abstreifen. Hauptsache, denkt sich die eigennützige Leserin, er lässt das Schreiben nicht.

Joachim Meyerhoff, »Man kann auch in die Höhe fallen«, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2024, 26 Euro

Alle Buchempfehlungen: Claudine Stauber

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