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Man sieht auch mit dem Herzen gut

Begleiterin Maria Pop unterstützt Theo Kellerer dabei, sich leichter zurechtzufinden.

Beim Besuch in seinem Wohnzimmer sitzt der frühere katholische Stadtdekan Theo Kellerer gemütlich und freundlich lächelnd im großen Plüschsessel. Der Raum ist gut geheizt, auf dem Tisch stehen zwei Kaffeetassen für den Gast und ihn. An seinem Hemd hat der Senior den gelben Button mit drei schwarzen Punkten angesteckt, der ihn als Blinden ausweist. Er hatte schon seit langem Probleme mit den Augen, doch seit über zwei Jahren ist er nun vollkommen blind. Er nimmt nicht einmal mehr Hell/Dunkel-Kontraste wahr. Der Priester ist einer von etwa 1,2 Millionen blinden oder schwer sehbehinderten Menschen in Deutschland. Das ist nur eine Schätzung, eine exakte Zählung gibt es hierzulande im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten nicht.

Obwohl der Verlust des Augenlichts für den passionierten Leser ein schmerzhafter Einschnitt ist, lässt er sich nicht unterkriegen. Kellerer hat ein Team aus Pflegedienst, Helferinnen, Freunden und Bekannten um sich geschart, um seinen Alltag zu bewältigen. »Ich betreibe Vielweiberei«, scherzt der zölibatär lebende Geistliche lachend, denn die meiste Unterstützung kommt von Frauen.

Dieses Netz aus Kontakten ist wichtig, damit der 89-Jährige in seiner Wohnung bleiben kann. Hier fühlt er sich sicher und geborgen, hier kennt er jeden Quadratzentimeter. Er weiß, wo Tisch, Sofa, Sessel und Vitrine stehen. Als Orientierung nutzt er große Papierblumen in einer Vase am Flur. Wenn er sie befühlt, weiß er: Rechts geht es in die Küche, geradeaus zur Wohnungstür. Die Tür zum Badezimmer ist nur angelehnt, nicht geschlossen, die Tür zum Wohnzimmer steht ganz weit offen, sodass er sich nicht daran stoßen kann. Für die Orientierung ist wichtig, dass alles seinen bestimmten Platz hat und nichts verändert wird. Nur so findet sich der Blinde problemlos zurecht. Schließlich läuft Wahrnehmung zu 80 Prozent über die Augen: Wenn die Sehkraft ausfällt, muss der Tastsinn übernehmen.

Radio wurde zu einer zentralen Informationsquelle

Auch das Zuhören hat viel größere Bedeutung bekommen. Kellerer war viele Jahrzehnte ein leidenschaftlicher Zeitungsleser: Jetzt lässt er sich seine Nürnberger Zeitung von einer Helferin vorlesen, verzichten muss er auf das Gedruckte also nicht. Außerdem hört er gern klassische Musik und Radio Horeb, einen christlichen Sender: »Oft kommen da sehr gute Beiträge, manchmal ist es aber auch blöd konservativ«, urteilt Kellerer. Für ihn als Priester ist entscheidend, dass er bei Horeb das Stundengebet mitbeten kann – sein früheres tägliches Brevierlesen ist ja nicht mehr möglich. Der Psalm »Du machst meine Finsternis hell, oh Gott« hat für ihn eine völlig neue Bedeutung bekommen. Das Radio wurde zu einer zentralen Informationsquelle: Hier erfährt er auch Neuigkeiten aus aller Welt. Besonders bedrücken ihn die Kriege gegen die Ukraine und im Nahen Osten. Immer wieder fragt er sich, warum die verfeindeten Gruppen nicht endlich den Dialog miteinander suchen: Er ist überzeugt, dass Gewalt nur immer wieder neue Gewalt erzeugt.

Viele Erblindete reagieren mit Verbitterung und schmerzlichen Verlustgefühlen darauf, dass sie nichts mehr sehen. Hat auch der Pfarrer mit seinem Schicksal gehadert? »Nein, eigentlich nicht so sehr. Ich muss es eben nehmen, wie es kommt. Ich habe so viele liebe Leute um mich, das hilft mir ungemein«, antwortet der gebürtige Waischenfelder. Für ihn ist ganz entscheidend, sich nicht von den Menschen zurückzuziehen, sondern die Geselligkeit zu pflegen. »Manche reagieren mit Abschottung und Selbstisolierung«, weiß der Seelsorger, »sie leiden dann unter der Einsamkeit. Da muss man sie herausholen, denn das macht den Menschen fertig.« Die Gefahr besteht bei Kellerer nicht, wie sein Kalender zeigt: Viele Termine sind eingetragen. Ehemalige Weggefährten wie der frühere Ministerpräsident Günther Beckstein oder der einstige Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly schauen ebenso bei ihm im Nürnberger Stadtteil Gleißhammer vorbei wie Nachbarn oder Mitglieder aus der Pfarrgemeinde.

Hilfen muss man sich auch erarbeiten

Dass man sich nicht in das Schneckenhaus des Alleinseins zurückzieht, ist auch für Gabriele Grau ein Schlüssel zur Lebenszufriedenheit. Die stellvertretende Vorsitzende der Bezirksgruppe Mittelfranken im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) weist darauf hin, dass es nicht nur in Nürnberg das Beratungszentrum »Blickpunkt Auge« am Bahnhofsplatz gibt. In den Städten der Region – etwa in Ansbach, Dinkelsbühl, Neustadt/Aisch, Fürth oder Erlangen, um nur einige zu nennen – können sich Betroffene bei regelmäßigen Treffs austauschen. »Natürlich bricht eine Welt zusammen, wenn man nichts mehr sieht«, sagt Grau, die selbst schwer sehbehindert ist, »aber es findet sich immer ein Weg. Geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid. Und es gibt viele Hilfen und Möglichkeiten, doch man muss sie sich erarbeiten. Wir wollen Mut machen.«

Die Rentnerin verweist auf die kostenlosen Hilfsmittel-Beratungen, die »Blickpunkt Auge« auch Nichtmitgliedern kostenlos anbietet. Dort erfährt man alles über blindentaugliche Telefone und Sonnenbrillen, über Lupen, spezielle Software bei Smartphones, Haushaltsgeräte und Langstöcke. Die Knöpfe am Küchenherd kann man mit Markierungen erkennbar machen. Für Gewürze, Salz und Zucker gibt es runde und eckige Behälter mit geriffelten oder glatten Oberflächen, so dass man den Inhalt erfühlen kann – falls man das Gewürz nicht schon am Geruch erkennt. Das Internet ist eine elektronische Nabelschnur zum Alltag – viele Websites sind barrierefrei gestaltet und so für Sehbehinderte wie Blinde gut nutzbar. Barrierefrei heißt in diesem Fall, dass Betroffene einen sogenannten Screenreader nutzen: Diese Software setzt Texte in Brailleschrift um, die man sich auf der entsprechenden Braillezeile anzeigen lassen kann oder man kann sich den Artikel dann auch laut vorlesen lassen.

Draußen sein bedeutet Teilhabe

 Jeder Betroffene hat Anspruch auf 40 Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining, die der Arzt verschreibt. Ein Trainer läuft mit dem Patienten die üblichen Wege ab – zur Arztpraxis, zum Einkaufszentrum oder in der Umgebung der Wohnung. Die Blinden und Sehbehinderten sollen mit ihrem Blindenlangstock befähigt werden, die vertrauten Strecken allein zu bewältigen. Denn das Draußen-Sein ist auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Theo Kellerer unternimmt täglich einen Spaziergang zur nahe gelegenen Kleingartenanlage Baggerloch – Bewegung ist für ihn ein Lebenselixier. Allerdings läuft er nicht mit dem Blindenstock, sondern am Arm einer Begleiterin. Das ist ihm lieber, als allein den Weg zu ertasten.

Erblinden ist im Wesentlichen eine Alterskrankheit. Der Anteil derer, die ohne Sehfähigkeit zur Welt kommen, ist sehr gering. In Bayern erhalten 11.342 Personen Blindengeld, davon sind lediglich 3,4 Prozent minderjährig. Zwei Drittel sind älter als 60 Jahre und immerhin fast 40 Prozent über 80 Jahre alt. Hauptsächlich drei Krankheiten führen zur allmählichen Erblindung: die altersabhängige Makula-Degeneration, der grüne Star (Glaukom) sowie die diabetische Retinopathie. Immerhin ist seit 2007 eine Form der Makula-Degeneration behandelbar.

Nur nicht resignieren und sich ins Schicksal ergeben

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband setzt sich engagiert für die Bedürfnisse seiner Klientel ein. Der Verein erfährt jedoch häufig, dass Senioren, die allmählich erblinden, resignieren und sich traurig in ihr Schicksal ergeben. Das muss nicht sein, betont ein Sprecher, auch mit 80 kann man immer noch lernen, sich in der neuen Lebenssituation zurechtzufinden und Pläne für die Zukunft zu machen. So denkt auch Theo Kellerer: Im nächsten Jahr möchte er seinen 90. Geburtstag und sein 65-jähriges Priester-Jubiläum feiern – im Kreis der Menschen, die es gut mit ihm meinen und für ihn im Alltag eine unentbehrliche Hilfe geworden sind.

Am Ende des Gesprächs für diesen Beitrag im Wohnzimmer des einstigen Stadtdekans heißt es Abschied nehmen. Aber wie? »Auf Wiedersehen« kann man schließlich nicht sagen. Dann lieber schon auf gut Fränkisch »Ade« – das passt auch für den katholischen Pfarrer besser: Ade oder französisch adieu bedeutet schließlich »Zu Gott« oder »Lebewohl«.

Text: Harmut Voigt
Fotos: Michael Matejka

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