Ich weiß, was Elend bedeutet, ich habe Krebs erlitten, Psychoterror und den totalen Absturz«, sagt Günther M., »und ich hätte bestimmt heute noch große Probleme, wenn es die Bahnhofsmission nicht gäbe. Nun bin ich auf einem guten Weg.« So überschwänglich drückt der 56-Jährige sein Lob für eine Einrichtung aus, die jetzt 70 Jahre alt wurde und aus Erlangen nicht mehr wegzudenken ist.
Bei ihrer Gründung 1954 war sie in einer schmucklosen Holzbaracke untergebracht und hatte die Aufgabe, Reisenden und Kriegsheimkehrern Orientierung zu geben; später kamen die sogenannten Gastarbeiter dazu, die sich im fremden Land und der fremden Umgebung erst einmal zurechtfinden mussten. Heute noch präsentiert sich die Bahnhofsmission der Diakonie Erlangen an Gleis 1 von außen betrachtet weiterhin eher schmucklos. Die ursprüngliche Tätigkeit am Bahnsteig ist geblieben, doch das Spektrum der Aufgaben ist deutlich breiter. Die Bahnhofsmission soll für alle Menschen, die einsam oder in Not sind, »ein Ort der Geborgenheit sein, eine Anlaufstelle, wo sie einfach so sein dürfen, wie sie sind, wo sie in Ruhe gelassen werden, wenn sie das möchten«, erläutert die Leiterin, Diplomsozialpädagogin Claudia Steubing. »Wir gehen nicht einfach auf jeden zu und fragen, woher kommen Sie? Wie heißen Sie? Unsere Einrichtung ist niedrigschwellig, niedrigschwelliger geht es nicht mehr.«
Jeder und jede bekommt kostenlos Kaffee und Gebäck oder belegte Brötchen. Aber keine ungefragten Ratschläge. Das ist das Erfolgsrezept, weswegen viele Menschen zuerst hierher kommen, wenn sie in sozialen Schwierigkeiten sind. Viele von ihnen kommen regelmäßig, auch das spiegelt Schieflagen in der Gesellschaft wider. Das erleben tagtäglich die drei hauptamtlichen Helferinnen und Helfer sowie die neun Frauen und zwei Männer, die ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission mitarbeiten. Sie geben nicht nur Kaffee und Gebäck aus, sondern nehmen sich – wenn es gewünscht wird – der Sorgen der Gäste an und schaffen eine Atmosphäre der Geborgenheit und Würde. So wie Gerda Britschau. Sie ist 70, »also genauso alt wie die Bahnhofsmission«, sagt sie lachend. Seit 2015 arbeitet sie hier ehrenamtlich mit. »Als ich in Rente ging, wusste ich, dass ich irgendetwas Sinnvolles machen musste.« Zuerst wollte sie sich um Flüchtlinge kümmern, weil damals so viele kamen und Hilfe brauchten. »Aber dann sagte mir eine Freundin, dass auch die Bahnhofsmission ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sucht.« Das habe sie sich angeschaut, es gefiel ihr, »und seitdem bin ich hier. Ich könnte mir gar nichts Besseres vorstellen.« Sie habe gerne mit Leuten zu tun, um ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden.
Gerlinde Seeger und ihr Mann waren schon immer Bahn-Fans, und als sie 2016 in Rente ging, war für sie klar, »dass ich in diesem Bereich ehrenamtlich was tun und anderen helfen wollte.« Die Bahnhofsmission war genau das Richtige. Diese niedrigschwellige Hilfe sei notwendig, sagt die 71-Jährige, und mache sie selbst sehr zufrieden. Denn »man bekommt hier vieles mit, das man nicht kannte, und das verändert auch die eigene Sicht«. Wie diese beiden Frauen sind auch die anderen Helferinnen und Helfer um die 70 Jahre alt und schon lange dabei, betont Leiterin Steubing. Bei der Jubiläumsfeier im Juli sei eine Frau verabschiedet worden, die 25 Jahre mitgearbeitet habe und nur aufhörte, weil sie nach Norddeutschland umzog. Allerdings gebe es ein Nachwuchsproblem, »wir brauchen dringend Jüngere, die bei uns mitmachen«. Spezielle berufliche Voraussetzungen seien nicht nötig, aber Empathie, Einfühlungsvermögen und Geschick im Umgang mit Leuten in sozialen Nöten.
Gepflegte Atmosphäre
Zur guten Atmosphäre trägt auch bei, dass die Räume gründlich renoviert wurden. Die Bahn, sagt Claudia Steubing, habe neue Heizkörper einbauen, einen riesigen Schimmelfleck entfernen und die alten Außentüren durch neue ersetzen lassen. Die Bahnhofsmission selbst konnte dank vieler Spenden eine neue Küche einbauen, neue Schränke und neue Büromöbel. »Eine Tür hat unser Haus- und Hofschreiner nach unseren Wünschen mit Durchreiche kostenlos angefertigt.« Als besondere Auszeichnung bekam die Bahnhofsmission im letzten Jahr den mit 2500 Euro dotierten Rotary-Preis. Die große Spendenbereitschaft in der Bevölkerung und bei Erlanger Betrieben und Institutionen spielt eine entscheidende Rolle. Selbst in Corona-Zeiten konnten Claudia Steubing und ihr Team Essen ausgeben, sogar warme Mahlzeiten, aus dem Restaurant »Mein lieber Schwan«. Das Besitzer-Ehepaar Stubbe – Claudia Stubbe war schon seit Jahren ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission – »hatte noch Vorräte im Kühlschrank und kochte damit für uns. Als die Vorräte aufgebraucht waren, kaufte Walter Lehmen-Stubbe bei seinen Lieferanten weiter ein, um unsere Gäste weiter versorgen zu können.«
Nach Corona kehrte der Alltag zurück, mit Kaffee und Brötchen. Ab und zu auch Obst, oft von der Tafel. Außerdem kann die Bahnhofsmission nun auch wieder den Auftrag der Bahn erfüllen, etwa Reisenden beim Umsteigen Hilfe zu leisten oder Präsenz zu zeigen, falls jemand Unterstützung braucht – während der Pandemie durften die Mitarbeiter den Gleisbereich nicht betreten. Für die Zukunft wünscht sich die Leiterin, »dass wir immer zu dritt arbeiten können, zwei in der Einrichtung, damit keine allein ist, wenn es mal Konflikte geben sollte, und eine Kraft, die draußen auf den Bahnsteigen ansprechbar ist.«
Montags bis freitags ist die Mission von 10 bis 13.30 Uhr geöffnet. In dieser Zeit kommen meist um die 20 bis 30 Gäste. Für die Leiterin beginnt der Tag schon lange vor 10 Uhr. Auf dem Weg zur Arbeit kommt sie bei der Bäckerei Trapper vorbei, in der sie Brezen und anderes Gebäck vom Vortag mitnehmen kann. Auch von Yorma’s im Bahnhof bekommt sie Brötchen, die sie und ihre Mitarbeiterin Gerda Britschau selbst belegen. Wurst und Käse können sie dank Spenden finanzieren. Was den Gästen außerdem angeboten wird, ist die Tageszeitung. »Viele kommen auch wegen der Zeitung zu uns, weil das die einzige Möglichkeit ist, zu erfahren, was in der Welt passiert«, sagt Steubing.
Bescheidenes Leben mit Sachleistungen
Zu den treuen Leserinnen gehört Karin M., die sich immer gleich die »Erlanger Nachrichten« nimmt, denn »ich freue mich immer, wenn ich etwas Schönes darin lese.« Weniger schön ist allerdings, was sie über ihr Leben berichtet: 1956 geboren, wuchs sie in Erlangen auf, verlor – aus für sie nicht nachvollziehbaren Gründen – ihre Wohnung und versuchte vergeblich einen beruflichen Neuanfang als Altenpflegerin. Sie wohnte dann in einer Unterkunft in Neunkirchen am Brand und ging ein Jahr lang zu Fuß nach Erlangen in die Bahnhofsmission. Sie hoffte 2023 auf eine Notwohnung in Erlangen, aber sie kam stattdessen in Nürnberg unter. Mit dem Rentenantrag hat es offenbar auch nicht geklappt, dennoch will sie sich nicht beklagen: »Ich lebe von Sachleistungen und komme damit gut zurecht.« Mit ihr sitzen andere Gäste am Tisch. Sie alle kennen sich hier aus, holen sich an der Durchreiche zur Küche Getränke und etwas zu essen. Und sie genießen, was Claudia Steubing mit Geborgenheit meint. Da lassen sie sich sogar Fragen stellen. Zwischen zwei der anwesenden Männer – beide sind Stammgäste – entwickelt sich eine lebhafte Debatte um ihren Verlust der Arbeit durch Mobbing oder schwere Krankheiten, über vergebliche Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, die lückenhafte staatliche Hilfe, die zunehmend soziale Kälte. Maria Z. hat der Diskussion still zugehört. Dann erzählt sie, dass sie sich seit ihrer Scheidung einsam fühlt. Sie hat eine eigene Wohnung, aber keine Kontakte. Deshalb komme sie regelmäßig und genieße es, unter Menschen zu sein, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Gemeinsam ist man einfach weniger allein.
Text: Herbert Fuehr
Fotos: Mile Cindric
Information
Die Erlanger Bahnhofsmission ist auf Sach- und Geldspenden angewiesen, um Menschen in Not helfen zu können, und auch sie spürt die Folgen der Inflation. Spenden sind möglich an die Diakonie Erlangen DE46 7635 0000 0060 0258 74 Wichtig: als Stichwort »Bahnhofsmission« angeben. Wer mithelfen will: Die Telefonnummer ist 09131 6301-360