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Wir müssen mehr auf die Alten hören

Lieber das Risiko einer Ansteckung in Kauf nehmen  als noch länger von den Kindern, Enkeln und Freunden abgeschnitten sein? Diese Frage stellen sich viele ältere Menschen. Foto: SianStock/photocase

Es ist schon seltsam. Jahrelang mussten sich die Rentner anhören, wie wichtig es sei, im Ruhestand aktiv zu bleiben, Sport zu treiben und die sozialen Kontakte zu pflegen. Und kaum war SARS-CoV-2 in Deutschland aufgetreten, galten die ganzen alten Regeln nicht mehr. »Wir bleiben zu Hause«, heißt es nun. Wie lange das noch gelten soll, weiß niemand. 

Die Zeit der schnellen Akutmaßnahmen ist mittlerweile vorüber, wir müssen einen Weg finden, mittel- und langfristig mit der Bedrohung durch den Corona-Erreger zurechtzukommen. Wie können vor allem alte Menschen vor Infektionen geschützt werden, solange noch kein Impfstoff existiert? Der Hamburger Psychiater und Autor Josef Aldenhoff fordert von der Politik, die Alten bei ihren Entscheidungen nicht zu übergehen, sondern sie stärker als bisher einzubeziehen. Und den Senioren rät er, sich zu überlegen, ob und welche Hilfmaßnahmen sie wünschen und ob sie um jeden Preis überleben wollen. 

Einsichten in ein kritikwürdiges System

Prof. Josef Aldenhoff plädiert für mehr Selbstbestimmung in der Corona-Krise.

Aldenhoff beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit unserem Gesundheits- und Pflegesystem, er prangert eine allzu große Marktgläubigkeit und Gewinnorientierung an und beklagt die zu schlechte Bezahlung von Pflegekräften. All dies führe dazu, dass der würdevolle Umgang mit Pflegebedürftigen, das Wohlergehen des Einzelnen nicht mehr gewährleistet sei. Der Neurobiologe, Psychiater und Psychotherapeut hat mehrere Bücher verfasst (zuletzt erschien »Bin ich schon alt – oder wird das wieder?«) und gibt in seinem »Hippokratesblog« Einsichten in ein kritikwürdiges System.

Dieses System steht mitten in einer Bewährungsprobe. Die von der Politik in der Anfangsphase der Pandemie getroffenen Entscheidungen – etwa zum Ausbau intensivmedizinischer Kapazitäten – empfindet Aldenhoff als gut und nachvollziehbar, obwohl die Bedrohung durch das Virus eine sehr abstrakte sei. Er selbst fühle sich nicht bedroht, obwohl er mit 71 Jahren zur »Risikogruppe« gehört. Er habe auch keine Vorerkrankungen. »Ich könnte also relaxed sein.« Aber es gehe eben darum, die Triage in den Krankenhäusern (also die Auswahl, wer überhaupt noch behandelt wird) unter allen Umständen zu vermeiden. »Es gibt in unserer Gesellschaft die Zusage: ›Die Medizin kann mich auffangen‹«, erläutert Aldenhoff. Ob man an Leukämie erkranke, eine Herztransplantation benötige oder an Covid-19 leide – jeder Bürger hat die Erwartung (und das Recht), dass ihm bestmöglich geholfen wird. Würde der Staat nicht alles tun, um dieses sicherzustellen, hätte dies einen grundlegenden Vertrauensverlust in das politische System zur Folge – mit der Gefahr einer Destabilisierung unseres Gemeinwesens. Die »drakonischen Reaktionen«, die die chinesische Führung gezeigt habe, zeugen seiner Ansicht nach von dieser Furcht vor Destabilisierung.

Wir müssen auch Hochbetagte, Pfleger und Altersmediziner fragen

Während die Wirtschaft langsam wieder hochfährt, Geschäfte und Schulen öffnen und das Leben mit größerer Distanz und Schutzmasken etwas Fahrt aufnimmt, werden den Älteren wohl noch auf absehbare Zeit größere Beschränkungen auferlegt werden. Denn sie sind von der Corona-Pandemie in besonderer Weise betroffen. Sie gelten als Risikogruppe, weil schwere und tödliche Krankheitsverläufe bei ihnen gehäuft vorkommen. Sie leiden auch öfter an Vorerkrankungen. Laut Robert-Koch-Institut sind 86 Prozent der Verstorbenen über 70 Jahre alt. (Stand: 13. April).

Umso wichtiger ist die Meinung der Älteren. »Wir kommen nicht darum herum die Menschen zu fragen, was sie wollen. Man macht in der Politik viele Expertenanhörungen. Man sollte jetzt auch Hochbetagte, Pfleger und Altersmediziner fragen«, fordert Aldenhoff. 

Er selbst kenne ältere Menschen, die lieber das Risiko einer Ansteckung in Kauf nehmen würden, als noch länger von ihren Kontakten zu Kindern, Enkeln und Freunden abgeschnitten zu sein. Darf man auf Dauer einer großen Personengruppe ihr Recht auf eine freie Entscheidung verweigern?»Wir würden die Alten in die Verbitterung drängen«, ist sich Aldenhoff sicher. »Ich würde jedenfalls alles tun, um dagegen vorzugehen, mir einen Anwalt nehmen und alle Mittel des Rechtsstaats ausschöpfen.«

Fragwürdiges Verhältnis von Nutzen und Schaden

Bei all dem müsse sich der Einzelne über die Folgen seines Handelns bzw. seiner Entscheidung im Klaren sein. Was Covid-19 betrifft, so lernen wir die Krankheit langsam immer besser kennen. Dabei zeichnet sich vor allem eines ab: Die beim schweren Verlauf häufig notwendige künstliche Beatmung hat erheblich Folgen für den Organismus. Der Palliativmediziner Matthias Thöns aus Witten (Nordrhein-Westfalen) beklagte kürzlich die »sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung«. Eine Intensivtherapie sei leidvoll und das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden stimme kaum. Einer chinesischen Studie zufolge könnten nur drei Prozent der Betroffenen gerettet werden. »97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie« und »von denen, kommen nur wenige zurück in ihr altes Leben. Eine große Zahl derer, die man nach zwei bis drei Wochen Beatmung rettet, verbleiben schwerstbehindert. Und das sind Zustände, die lehnen die meisten Menschen für sich ab.«

Josef Aldenhoff zweifelt an den Zahlen aus China. In den USA beispielsweise überlebten 20 Prozent der Corona-Patienten die künstliche Beatmung. Dennoch ergibt sich aus seiner Sicht eine Konsequenz: Die Patienten müssen sich informieren und rechtzeitig in ihrer Patientenverfügung präzise regeln, wie der Arzt im Fall des Falles vorgehen müsse. Denn der Mediziner befindet sich in einer Zwangslage. Er muss Leben retten, solange es möglich ist. Daraus kann der Patient den Arzt nur befreien, indem er eindeutig seinen Willen äußert. Und damit dafür sorgt, dass ihm die Selbstbestimmung bis zum Ende erhalten bleibt.

Text: Georg Klietz
Foto: SianStock/photocase

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