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Pausenloses Entzücken

Narziss, der schöne Jüngling aus der griechischen Mythologie, musste sich über das Wasser einer Quelle beugen, um sein anmutiges Gesicht darin gespiegelt zu sehen. Es gefiel ihm so sehr, dass er es wieder und wieder tat. Heutzutage brauchte er sich nicht mehr zu bücken. Er könnte Selfies machen, wo immer er sich aufhielte und könnte pausenlos mit Entzücken sein eigenes Antlitz betrachten. Denn in unseren Tagen hätte Narziss ein Handy.
Narziss hat heute mehr Jünger(innen) denn je. Illustration: Sebastian Haug

Narziss, der schöne Jüngling aus der griechischen Mythologie, musste sich über das Wasser einer Quelle beugen, um sein anmutiges Gesicht darin gespiegelt zu sehen. Es gefiel ihm so sehr, dass er es wieder und wieder tat. Heutzutage brauchte er sich nicht mehr zu bücken. Er könnte Selfies machen, wo immer er sich aufhielte und könnte pausenlos mit Entzücken sein eigenes Antlitz betrachten. Denn in unseren Tagen hätte Narziss ein Handy.

Von Brigitte Lemberger

Gut, das hat er verpasst, zum Glück, muss man sagen, denn so viele große Maler haben das Motiv aufgegriffen und den schönen Knaben am Wasser mit ihren Bildern unsterblich gemacht. Sein Erbe, der »Narzissmus«, ist uns geblieben: Niemals gab es so viele Jüngerinnen und Jünger, die seinem Vorbild folgen. Sie gehen durch die Straßen, sitzen in der Straßenbahn oder im Café, im Wartezimmer beim Arzt und beim Knutschen mit der Freundin, und der Selfie-Stick wird immer hochgehalten. Damit nicht genug: Das soeben erzeugte Foto vom einzigartigen Ich, Ich, Ich muss umgehend per Facebook oder Instagram an alle Freunde und Bekannte verschickt werden, die sich hoffentlich auch nicht sattsehen können an dem lieblichen Gesicht.

Schauspiel beim Selfie

»Was macht denn die für Faxen?«, fragte meine Freundin Selma, als wir gemütlich im Café unseren Kaffee tranken. »Du kannst ungeniert hinschauen«, forderte sie mich auf, »die sieht sowieso nichts anderes als sich selbst!«  Uns gegenüber saß allein eine junge Frau, ganz ansehnlich, aber mehr auch nicht, die vor der kleinen Selfie-Kamera mal die Zähne fletschte, mal ein tieftrauriges Gesicht zog, mal breit grinste. Sie unterbrach diese Tätigkeit nur, um mal kurz an ihrem Glas zu nippen. Etwas später traf ich sie zufällig wieder, diesmal in der U-Bahn, beschäftigt mit derselben Tätigkeit: Unverdrossen hielt sie sich den Stick vor die Nase. Sie grinste, sie lächelte fein, sie sah ernsthaft drein. Trotz aller Faszination, die das auf mich ausübte, musste ich leider aussteigen und erfuhr somit nicht, ob sie ihr Tun bis zur Endstation fortsetzte.

So war das, »ich schwör«!

Übrigens sieht man selten ältere Personen, die der Selfie-Leidenschaft verfallen sind. »Mach bloß kein Foto von mir, ich bin viel zu hässlich«, wehrte sich meine Mutter schon vor fünfzig Jahren. Und ich selbst bin eigentlich auch nicht scharf darauf, abgelichtet zu werden. Ich habe mich attraktiver in Erinnerung. Andererseits kenne ich eine Altersgenossin, die sich, eigener Aussage zufolge, noch »richtig schön« findet und angeblich jede Menge Bewunderer hat.
Himmel, was hat diese Frau für eine Selbstwahrnehmung? Und was für höfliche Freunde! Klar kann ein alter Mensch trotz aller Falten ein angenehmes Gesicht haben, klug, freundlich, interessant aussehen, aber genau das ist nicht gemeint. Na, lassen wir das.
Wenn’s denn unbedingt sein muss mit der manischen Selbstbetrachtung in vorgerückten Jahren, so seien wir froh, dass wir in modernen Zeiten leben. Uns zu einer Quelle zu neigen wie seinerzeit der junge Narziss, wäre ziemlich mühsam. Zwar ginge das Bücken noch relativ leicht, doch das Aufstehen würde womöglich zum Problem. Und keine Nymphe stünde bereit, uns auf die Beine zu helfen. Dann doch besser ein Selfie gemacht aus bequemer Position – vorausgesetzt, wir wissen, wie’s geht.

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